Antwerpen 1971. Die junge Philosophiestudentin Chaja Silberschmidt genießt das Leben. Um das Geld für die Miete zu verdienen, nimmt die junge Frau, deren Eltern den Holocaust überlebt haben, den Job eines Kindermädchens bei der chassidischen Familie Kalman an. Den strengen religiösen Ritualen der Kalmans steht die weltoffene Studentin, die sich von ihren jüdischen Wurzeln weit entfernt hat, zunächst skeptisch gegenüber, schließt dann jedoch den fünfjährigen Simcha, eines der fünf Kinder von Frau Kalman, ins Herz. Der verstörte Junge hat noch nie ein Wort gesprochen und macht sich aus Angst vor dem strengen Vater in die Hose. Durch ihre behutsame Betreuung gewinnt Chaja das Vertrauen des Jungen und bringt ihn zum Sprechen. Unterdessen versucht ihr Vater beharrlich, zwei Koffer mit seiner Violine, dem Familiensilber und Fotos wiederzufinden, die er kurz vor dem Abtransport durch die Nazis vergraben hatte.
Das Erbe der Vergangenheit
Das Regiedebüt des niederländischen Schauspielers Jeroen Krabbé aus dem Jahr 1997 bildet zeitlich einen Brückenpfeiler zwischen zahlreichen Holocaust-Filmen und den noch eher seltenen Filmen, die sich mit der jüdischen Gegenwart befassen. Die Verfilmung des Romans "Zwei Koffer" (1993) von Carl Friedman zeigt, wie stark die Verbrechen des Nazi-Regimes auch das Leben der nachfolgenden jüdischen Generationen bestimmen. Krabbé verarbeitet in dem Kinofilm, der neben einem "Blauen Engel" auf der Berlinale 1998 weitere Auszeichnungen erhielt, auch autobiografische Erfahrungen: Er wurde 1944 im besetzten Amsterdam in einem Versteck seiner jüdischen Mutter geboren, die ihr Überleben der Heirat mit einem Nicht-Juden verdankt. Erst nach dem Krieg erfuhr die Mutter, dass ihre gesamte Familie deportiert und umgebracht worden war. "Ich wuchs in völligem Schweigen auf", erinnert sich Krabbé. Das traumatische Schweigen und das Schuld-Syndrom der Überlebenden ziehen sich wie ein roter Faden durch
Kalmans Geheimnis. So manifestiert sich im überharten Auftreten von Vater Kalman gegenüber seinen Kindern die noch nicht bewältigte Todesangst, während Chajas Mutter, die in rastloser Hausarbeit aufgeht, sich der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einfach verweigert. Chajas Vater wiederum leidet unter der obsessiven Vorstellung, seine vergrabenen Habseligkeiten retten zu müssen.
Ein jüdischer Culture clash
Im Mittelpunkt der Geschichte steht jedoch Chaja, die so verweltlicht lebt, dass einer ihrer besten Freunde nicht einmal weiß, dass sie Jüdin ist. Chajas Emanzipationslust prallt daher umso härter mit dem extremen Konservativismus der chassidischen Familie zusammen. Dieser "Culture clash" zeigt sich schon in der Kleiderordnung: Die engen Blue Jeans der Studentin kontrastieren heftig mit den schwarzen Gewändern, mit denen Frau Kalman ihre körperliche Präsenz stets verhüllt. Die Liebe zu Simcha überbrückt jedoch die gegenseitige Reserviertheit und lässt die Frauen schließlich zu Verbündeten werden. Zugleich setzt sich Chaja offenkundig erstmals mit ihrer jüdischen Herkunft und Identität auseinander. Auch wenn Frau Kalman von ihrer weltanschaulichen Position nicht abrückt, demonstriert sie am Ende ihren Respekt vor der weltlich orientierten Jüdin: Sie schneidet nach einem alten Brauch der Trauer den Kragen an Chajas Mantel ein, was die Familie eines Verstorbenen nur den engsten Angehörigen und dem Freundeskreis angedeihen lässt. Bis zu sechs Monaten wird das eingeschnittene Kleidungsstück getragen, um so den "einschneidenden" Verlust eines geliebten Menschen zum Ausdruck zu bringen.
Die Figuren und ihre Darstellung
Obwohl der Schauspieler-Regisseur Krabbé die Dramatik in erster Linie aus den Figuren heraus entwickelt, belässt er einige Schlüsselfiguren leider im Stadium des Holzschnittartigen. So wird Herr Kalman, den Krabbé selbst spielt, als streng orthodoxer Dogmatiker zum Despoten stilisiert, dem man keine echten Vatergefühle zutraut. Und der intrigante Hausmeister kommt mit seinem antisemitischen Aktivismus nie über eine Karikatur hinaus. Auf der anderen Seite hat Krabbé für
Kalmans Geheimnis ein multinationales Ensemble zusammengestellt, das vom charmanten britischen Kinderdarsteller Adam Monty über den deutschen Leinwandstar Marianne Sägebrecht bis zum israelischen Charakterdarsteller Chaim Topol als jüdischer Ratgeber reicht. Viel Mut offenbarte der Regisseur, als er Isabella Rosselini gegen ihren Typus als glamouröse Italienerin besetzte und ihr die Rolle einer chassidischen Jüdin anvertraute. Der Österreicher Maximilian Schell gibt der Figur des Silberschmidt individuelle Züge jenseits der Obsession. Eine herausragende Leistung zeigt die junge Schottin Laura Fraser, die den inneren Zwiespalt Chajas anrührend zum Ausdruck bringt.
Verbuddelte Zukunft
Ziehen sich Ausflüge ins Sentimentale schon durch den gesamten Film, so irritiert das "Unhappy Ending" mit einem tragischen Unfall, der nicht nur Chajas Leben für immer verändert und das vorherige Plädoyer für Toleranz und Humanität in Frage stellt, manche Zuschauenden gar vor den Kopf stoßen dürfte. Fragen wirft auch das Schlussbild auf: Hatte schon zuvor eine plakative Symbolik das exzentrische Verhalten Silberschmidts überlagert, während er in den Hinterhöfen buddelte, hilft Chaja ihrem Vater nun beim aussichtslosen Graben nach den verlorenen Koffern, sei es aus Barmherzigkeit oder weil sie das Schicksal ihres Vaters nun besser begreifen kann, der von seiner Vergangenheit nicht loskommt. Es hat den Anschein, dass die Protagonisten/innen in den 1970er-Jahren den Anschluss an die Gegenwart einfach noch nicht finden konnten (oder durften).
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.01.2005