Hintergrund
HipHop - Von der Ghettokultur zum Rap "light"
Die Wurzeln des HipHop sind viele Generationen alt und eng mit der Geschichte der Sklaverei verbunden. Als eigenständige Jugendkultur trug HipHop jedoch erst in den frühen 1970er-Jahren Blüten, zunächst als alternative Partyform von Ghetto-
jugendlichen, selbstorganisiert und fernab vom langweiligen Rock- und Disco-Mainstream der Weißen. Bald schon begannen DJs und MCs (Rapper) damit, Rap als Darstellungsform für die oft brutale Ghetto-Realität zu nutzen. Bar jeglicher Aussicht auf eine Veränderung ihrer sozialen Lage, führten die Jugendlichen Stellvertreter-
kriege gegen sich selbst: Drogen, Kriminalität, Bandenkriege. Die HipHop-Idee war es nun, die selbstzerstörerische Gewalt und Drogenflut einzudämmen und kreativ umzulenken. HipHop-Begründer wie Afrika Baambaataa und Grandmaster Flash motivierten die Gangs, ihre Rivalitäten in Rap- und DJ-Battles (Wettkämpfen) auszutragen, sprühten ihre erfahrungsgesättigten Warnungen vor exzessivem Drogenkonsum an die Wände, verkehrten das verächtliche "Nigger"-Dasein im Rap zum selbstbewussten "black & proud". Es ging also weiterhin um Wettbewerb, um Konkurrenz. Doch die sollte anders ausgetragen werden als bisher: Kreativität als Waffe. Wer zukünftig den Respekt – ein Schlüsselwort nicht nur in der HipHop-Kultur – seiner Community erhalten wollte, musste dies mit Worten, Farben, Tanzen und Musik erarbeiten, nicht mit der Pumpgun.
Musik und Aufklärung
Rap war und ist eine message music; die Texte stehen im Mittelpunkt. Rap bedeutet vor allem Kommunikation. Und egal, ob die frühen Raps von Sex, Drogen, Geschlechtskrankheiten, Armut oder Kriminalität handelten, sie spiegelten immer den Alltag und die (Alb-)Träume der schwarzen Unterschicht Nordamerikas wider, der die Rapper selbst angehörten. Rap verknüpfte so in modernem Gewand zum Teil Jahrhunderte alte Traditionen schwarzer Geschichtsschreibung, die zumeist eine mündlich überlieferte war: von den Griots, den spöttischen Geschichtenerzähler Westafrikas, über den Scat-Gesang des Bebob bis zum Gospel schwarzer Prediger. Dabei war die Sprache des Rap subversiv. Begriffe aus der (weißen) Herrschafts-
sprache bekamen im Kontext des Rap eine völlig andere Bedeutung, enthüllten ihren wahren Sinn; Doppeldeutigkeiten oder die extremen Übertreibungen beim "Signifying" [eine stilisierte, rhetorische Sprachpraxis, Anm.d.Red.] waren nur für die Angehörigen der eigenen Szene zu decodieren. Rap war Musik und Aufklärung aus dem Ghetto für das Ghetto.
Der Rap verlässt das Ghetto
Fast zehn Jahre spielte sich HipHop ausschließlich in wenigen "schwarzen" Vierteln von New York ab, eine Straßenkultur, unbeachtet vom Rest der Welt. Doch die Bloc-Partys [Nachbarschaftsfeste, Straßenfeste, Anm.d.Red.] machten Rap bekannt. Einige MCs wurden zu lokalen Stars, nahmen bald Gagen für ihre Auftritte und verkauften Mitschnitte ihrer Raps auf Kassetten. Der Rap verließ das Ghetto. Die Veröffentlichung der ersten Rap-Single 1979 – Rapper’s Delight von der Sugarhill Gang, einer Studioband! – bedeutete einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der Musikkulturen. Konnte DJ-Musik bis dahin nur live erlebt werden, so ließ sich der auf Vinyl gepresste Sound nun an jedem Ort von jedem Publikum konsumieren. Die DJ-Musik begab sich damit auf den Weg von der Ereignis- zur Konsumkultur, die Botschaften des Rap erreichten nun millionenfach die Ohren von Jugendlichen, die den sozialen Kontext seiner Entstehungsgeschichte nicht kannten oder nicht nachvollziehen konnten, weil sie niemals in ihrem Leben einen Fuß in die realen Ghettos gesetzt hatten.
Euphorie in deutschen Jugendclubs
Filme wie Wild Style (Charlie Ahearn, 1982), Beat Street (Stan Lathan, 1984) oder Style Wars (Henry Chalfant, Tony Silver, 1982) trugen die bunten Identitätssymbole New Yorker Graffitisprayer und die Fitnesskunst jugendlicher B-Boys (Breakdancer) auch in deutsche Jugendklubs – im Westen wie im Osten. Vor allem jedoch bei den bundesdeutschen Einwandererjugendlichen löste die selbstbewusste Bilder- und Körpersprache der afro- und lateinamerikanischen Straßenkids ein euphorisches Echo aus. Kein Wunder, dass sich überall in Deutschland Jugendzentren in Graffiti- und Breakdance-Werkstätten verwandelten. Doch nach und nach strömten auch Kids herbei, die weder das eine noch das andere aus persönlichem Erleben kannten und gerade deshalb auf diesen exotischen Ghetto-Thrill, gepaart mit absoluter Coolness, abfuhren.
Rap als Massenware
Im US-Pop-Business war Rap bereits Mitte der 1980er-Jahre die Wachstumsbranche Nummer eins. Der 1981 für die konsumfreudige urbane Jugend gestartete Musikkanal MTV sendete in den ersten Jahren ausschließlich Videos weißer Musiker/innen und nahm erst nach einer Boykottdrohung der Plattenfirma CBS afroamerikanische Künstler/innen ins Programm, ignorierte Rap jedoch noch jahrelang. Der Sender kapitulierte schließlich vor der Tatsache, dass sich auch weiße Teenager massenhaft für diese Musik begeistern ließen und startete 1988 mit Yo! MTV Raps eine tägliche HipHop-Show, die sofort die höchsten Einschaltquoten erreichte, die MTV jemals hatte. Millionen von Fans wollten diese Musik im Radio hören, im Heimkino sehen, im Plattenhandel kaufen. Daraus ergab sich allerdings für die Industrie ein Problem: Die wichtigsten Stars wie Ice-T, Ice Cube, Public Enemy, 2Live Crew, N.W.A. standen auf dem Index wegen ihrer explicit lyrics [deutsch: allzu deutliche Liedtexte, Anm.d.Red.]. Die Musikindustrie reagierte zunächst mit einer umfassenden Zensurkampagne: "Ganze Songs werden vor der Veröffentlichung vom Album genommen, Coverkunst wird vernichtet. Ein Künstler wird gezwungen, eine ‘saubere’ Version eines 'schmutzigen' Songs zu schreiben", berichtet Ice-T in seiner Autobiographie.
Zensur und medienwirksame Skandale
Die Entschärfung der Original-Raps auf ein für den weißen Mittelschichtmarkt akzeptables Maß genügte allerdings nicht zur Befriedigung der Kaufinteressen. Denn Zensur wirkt selten so, wie die Zensoren sich das vorstellen. Vor allem dann nicht, wenn sie auf eine Szene trifft, die es geradezu darauf anlegt, das Establishment zu reizen. Da wird ein Verbot schnell zur Auszeichnung, zum Qualitätsmerkmal. Vor allem der Gangsta-Rap [Rap-Genre, das gewaltorientiert und klischeehaft das Lebensumfeld eines Gangsters beschreibt, Anm.d.Red.] profitierte von der schockierten Reaktion der Mehrheitsgesellschaft. Dr. Dre, der seit 1991 etwa 15 Millionen Platten verkaufte, prügelte sich mit Produzenten und einer Fernseh-moderatorin, und als er schließlich dazu verurteilt wurde, einen Funksender am Knöchel zu tragen, der ihn rund um die Uhr mit seinem Bewährungshelfer verband, war die Presse dabei. Dr. Dres Zögling Snoop Doggy Dogg verkaufte vier Millionen Exemplare seines 1994er-Debütalbums Doggy Style, nachdem die Öffentlichkeit darüber informiert wurde, dass Snoop wegen Mordes angeklagt wurde. Snoops Rapper-Kollege Tupac Shakur wurde medienwirksam für 1,4 Millionen Dollar Kaution aus dem Gefängnis geholt, in dem er wegen Vergewaltigung eines weiblichen Fans saß, um das Doppelalbum All Eyez on Me aufzunehmen – es sprang sofort auf Platz eins der Charts und wurde bislang über sechs Millionen Mal gekauft. Bis heute profitieren in Deutschland Bushido und das Label aggro Berlin vom aggressiven Gangsta-Image und harten, sexistischen Battle-Lyrics.
Mode für alle
Deren Erfolg war auch eine Reaktion auf die "Weichspülung" des Rap durch die Industrie und zahlreiche rappende Pop-Acts ohne "Street Credibility", die zwar den Rhythmus, die Mode und die Signalsprache der HipHop-Kultur kopierten, aber ihren sozialen Kontext ausblendeten: Rap "light". Aus einer Ghetto-Kultur war in den späten 1990er-Jahren eine Mode für alle geworden, die derzeit größte Jugendkultur nicht nur in Deutschland. Noch immer ist das "Ghetto" ein zentraler Bezugspunkt der deutschen HipHop-Szene und der afroamerikanische Rapper, Writer oder B-Boy eine prägende Leitfigur. Doch mit dem Siegeszug des "Deutschen HipHop" (von Die Fantastischen 4 bis 3. Generation) betraten unzählige deutschstämmige Jugendliche der Mittelschicht die Szene, die beim besten Willen zu keiner an den Rand gedrängten ethnischen oder sozialen Minderheit gehören – und dementsprechend auch andere Themen in ihren Raps aufgreifen.
Ausverkauf des HipHop?
So reicht das Themenspektrum heute von Hymnen auf angesagte TV-Sendungen, Comics oder Computerspiele über Auseinandersetzungen mit Lehrkräften und Neonazis bis zu den meist als unerfreulich beschriebenen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Im Mittelpunkt stehen fast immer die Gefühlswelten gelangweilter, unzufriedener Bürgerkinder – und diese unterscheiden sich doch deutlich von denen amerikanischer Ghettokids. Während "old-school"-Verfechter darin den Ausverkauf des HipHop und den Verlust von Authentizität und Realness sehen, schätzen andere gerade jene Rapper als authentisch, die nicht die US-amerikanischen Ghetto-Images kopieren, sondern ihre eigenen Themen und Lebenserfahrungen künstlerisch bearbeiten. Entscheidend für den Erwerb von Respect und Fame ist für sie nicht die eigene (marginalisierte) gesellschaftliche Position, sondern die Originalität und die Ernsthaftigkeit der Teilhabe an der HipHop-Community. So hat das “Anything goes” der Gesamtgesellschaft auch die HipHop-Kultur erreicht. Das Spektrum reicht inzwischen vom aufklärerischen "Edutainment" [Verbindung von Unterhaltung und Bildung, Anm.d.Red.] bis zum puren Party-Rap, von antifaschistischen bis zu rassistischen Aussagen, vom kraftmeierischen "Gangsta"-Macho bis zur postfeministischen Labelchefin. Wie im wirklichen Leben.
Autor/in: Klaus Farin, 27.09.2007
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Germany License.