Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte VI: Lust am Untergang - Der Katastrophenfilm
"Die gescheiterte Hoffnung" – Caspar David Friedrichs Bild von 1824 nimmt das Desaster der Titanic vorweg. Es ist ein Cinemascope-Gemälde der Natur, gegen die eine Zivilisation keine Chance hat. Eisschollen türmen sich rahmenfüllend; klein, unbedeutend nur das gebrochene Schiff mit dem Namen "Hoffnung" – zugleich selbstverständlich eine Metapher.
Nachdem die Bilder laufen gelernt hatten, wurde die Katastrophe schnell Thema des neuen Mediums Film, das deren Attraktivität erkannte. Daran hat sich im Zeitalter des Katastrophen-Tourismus nichts geändert. Das Versinken einer ganzen Stadt im Feuerhagel des Vulkans ist nicht erst seit Mick Jacksons urbaner Krater-Geburt Volcano von 1997 spektakulär und populär. Bereits 1913 ging Pompeij in Mario Caserinis Gli ultimo giorni di Pompei zum ersten Mal auf der Leinwand unter. Viele weitere Untergänge der antiken Freizeit-Metropole sollten folgen. Die Pompeij-Filme legten die Dramaturgie fest, nach der spätere Katastrophenfilme abliefen: Eine Gruppe von Menschen wird aus der gesichtslosen Masse isoliert und dem vernichtenden Zugriff der Elemente ausgesetzt. In der Reaktion auf diesen Zugriff lassen sich psychologische Charakterstudien herausarbeiten. Die Gruppe wird in Helden und Opfer aufgespaltet. Die Helden retten einen Teil der Opfer, der andere Teil ist dem Untergang geweiht. Die Zuschauer wissen meist mehr über die Lage als die handelnden Personen, da ihnen das Fortschreiten der Katastrophe aus 'objektiver' Perspektive gezeigt wird. Insofern sind Katastrophenfilme fast immer Suspense-Kino. Die versteckten Bomben, die an Bord eines Schiffes oder Flugzeugs der Explosion entgegen ticken und für den Zuschauer immer wieder eingeblendet werden, sind das klassische Beispiel für solchen Suspense.
Desaster hat es in der Filmgeschichte als Thema schon immer gegeben. Von der Gattung des Katastrophenfilms spricht man allerdings erst seit den 70er Jahren. Damals schlugen die Erschütterungen des amerikanischen Selbstbewusstseins durch Vietnam und Watergate in eine Lust am Untergang auf der Leinwand um und die 'desaströsen' Titel häuften sich. Es begann 1969 mit dem Flugzeugthema in Airport von George Seaton. 1972 folgte der Schiffsuntergang in Ronald Neames Die Höllenfahrt der Poseidon. Ein seismisches Beben hatte eine Flutwelle ausgelöst, die das Schiff zum Kentern brachte und die Überlebenden im Rumpf einschloss. Zum absoluten Katastrophenjahr wurde 1974 mit Mark Robsons Erdbeben, Irwin Allens Flammendes Inferno, Jack Smight's Giganten am Himmel und Richard Lesters Achtzehn Stunden bis zur Ewigkeit. In Lesters Film bedrohen sieben Bomben die 1200 Passagiere eines Luxusliners.
Die Subgattung filmischer Schiffskatastrophen hat noch einmal eine eigene Qualität. Wasser ist für viele Menschen ein ebenso anziehendes wie furchterregendes Element. Es ist haltlos, hat eben keine Balken, wie der Volksmund sagt. Deswegen löst die Gefährdung auf See einen besonderen Kitzel aus. Das erste große Schiffs-Desaster der Kinoleinwand appellierte jedoch nicht mit entsetzlichem Realismus an die Urängste der Publikums. Es war ein Animationsfilm, 1918 vom amerikanischen Zeichentrick-Pionier Winsor McCay nach einer Arbeit von 22 Monaten in Propaganda-Absicht gegen das Deutsche Reich entwickelt: The Sinking of the Lusitania.
Dann jedoch wurde die Titanic zum unübertrefflichen Fall des gigantischen Spiels vom Schiffeversenken auf der Leinwand. Auch Titanic-Filme leben vom Suspense. Der Zuschauer kennt das Ende, die Protagonisten kennen es nicht. Deswegen ist jede ihrer Handlungen, jedes ihrer Worte mit Tragik aufgeladen. Und jede Liebesgeschichte auf der Titanic hat die Übergröße einer allerletzten Umarmung voller Schmerzlust. Man begegnet sich im Schatten des Todes. Das ist das Besondere am Titanic-Thema und nicht die Frage, wer denn überleben wird. Deswegen spielt die Liebe auf dem Ozeandampfer fast immer die größere Rolle als die Panik – schon in der frühen deutsch-britischen Verfilmung von Ewald Andre Dupont aus dem Jahr 1929, als die Titanic noch Atlantic hieß, wie der gleichnamige Filmtitel. Nur in Herbert Selpins deutscher Version Titanic von 1943 wird der Eros unterspielt, denn da geht es vor allem um antibritische Nazi-Propaganda. Jean Negulesco macht für Hollywood 1952 mit Der Untergang der Titanic ein großes Melodram aus dem Stoff, an das Roy Ward Bakers britische Antwort Die letzte Nacht der Titanic sechs Jahre später nicht heranreicht. 1979 erzielt William Hale mit S.O.S. Titanic gerade durch erotische Dezentheit große Erschütterung. Mit Hebt die Titanic! hat Jeremy Jameson dann 1980 das erste Spektakel um das – realiter 3800 m unter der Wasseroberfläche liegende – Schiffswrack inszeniert, bevor James Cameron jetzt an Bord zurückgekehrt ist – zur letzten Fahrt in Liebe, Tod und Eis
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 12.12.2006