Es beginnt wie
Blue Velvet, mit einem schlitzohrig bösartigen Blick auf eine provinzielle Kleinbürgerszenerie: Ein Garten. Eine korpulente Frau räkelt sich in der Spätsommersonne im Liegestuhl. Typisch Lynch, man ist auf alles gefasst. Ein dumpfer Knall aus dem Nachbarhaus bringt die Sonnenanbeterin nicht aus ihrer horizontalen Position. Stille. Ruhige, bedächtige Kamerabewegungen. Eine verhärmte Frau mittleren Alters betritt das Nachbarhaus – und man sieht einen alten Mann am Boden liegen: Rose hilft ihrem offenbar gehbehinderten Vater Alvin auf, der sich beim anschließenden Arztbesuch als starrköpfiger Alter voller Gebrechlichkeiten entpuppt. Wortkarg sind die Dialoge, ruhig, fast sachlich die Bilder, in denen David Lynch die kleinen Alltäglichkeiten und zwischenmenschlichen Befindlichkeiten lebendig macht. Wer auf MTV- Tempo oder Action-Schock-Dramaturgie eingestellt war, wird enttäuscht. Wer sich aber einlässt auf die ruhigen Bilder voller Symbolkraft und die ungemein präsenten und prägnanten Schauspieler, hat schon bald das Gefühl, mittendrin zu sein in der Welt von Alvin und seiner (vermutlich durch einen früheren Schock) leicht sprachbehinderten Tochter. Die überraschende Wendung kommt mit einem Telefonanruf, in dem Alvin vom Schlaganfall seines Bruders Lyle erfährt. Zehn Jahre hatten die beiden kein Wort miteinander gesprochen, doch nun beschließt der 73-jährige Alvin, Lyle zur Aussöhnung im 500 Kilometer entfernten Mt. Zion, Wisconsin, zu besuchen – und da er es auf "seine Weise" machen will und ohnehin schlecht sieht, benutzt er dazu einen alten Rasenmäher.
Die Geschichte von Alvin Straight ist authentisch, hat sich 1993 zugetragen. David Lynch hat sie gradlinig nacherzählt, sogar chronologisch gedreht. Das ist nicht nur ungewöhnlich für seinen sonst eher assoziativen Erzählstil, sondern auch sehr mutig. Er nimmt sich Zeit, den Suspense des Alltäglichen aufzuspüren und darin Momente von Ambiguität und Surrealität zu entdecken. Auf seiner sechswöchigen Reise durch die herbstlich goldene amerikanische Landschaft, die von Kameramann Freddie Francis ebenfalls "straight" und ungeschönt fotografiert ist, begegnet Alvin zahlreichen Menschen unterschiedlicher Generationen und Provenienz. Mit einer jungen, verzweifelten Ausreißerin beispielsweise sitzt er am nächtlichen Lagerfeuer und überzeugt sie in Erinnerung an sein eigenes Leben ganz ungezwungen vom Sinn der Familienbande und dem Wert des Zusammenhalts auch in schwierigen Zeiten. Und bei einem unfreiwilligen Zwischenstopp wegen Maschinenschadens gewinnt er nicht nur schnell das Vertrauen der Jüngeren, die bereit sind, ihm zu helfen und erstaunt erkennen, dass Alvin über die größere Erfahrung verfügt und sich nichts vormachen lässt. Über gegenseitig bisher nicht ausgesprochene Kriegserlebnisse und Schuldgefühle kommt er auch ins Gespräch mit einem Gleichaltrigen, wird für diesen quasi zum Katalysator, der zur Katharsis führt. Trotz seiner offensichtlichen Gebrechen wirkt Alvin innerlich ausgeglichen, weitsichtig und stark. Auch im Alter hat er noch Visionen, die er zu realisieren sucht. Er lässt sich nicht ausgrenzen, wie viele seiner Altersgenossen, die ihre innere Unbeweglichkeit mit Besonnenheit und Reife zu kaschieren wissen oder gar resigniert haben. Alvin ist dazu viel zu eigenwillig – und er geht unvoreingenommen auf die Menschen zu, egal welchen Alters sie sind. Das macht ihn zur positiven Identifikationsfigur für Jung und Alt.
Mit wunderbarer Lakonie hat Lynch auch die Schluss-Sequenz inszeniert, die zum anrührenden Höhepunkt des Films wird. Selten und schon lange nicht mehr hat ein Film sich mit solcher Sensibilität und Liebe auf die vielleicht kostbarsten Dinge des Lebens besonnen: das (eigene) Leben, die Würde und Bescheidenheit im Miteinander, die Natur und Eingebundenheit in die Zeit, wobei auch das Alter als ein mit anderen Lebensabschnitten gleichberechtiger und sinnvoller Zyklus des Lebens erscheint. Lynch reklamiert dabei keineswegs nur Altersweisheiten, sondern bleibt auch hier seiner existenziellen und künstlerischen Maxime von Freiheit, Individualität und Anarchie treu. Denn Alvin Straight ist kein Angepasster, sondern einer, der sich auf seine Sensibilität und Fantasie verlässt und Respekt vor der Würde des anderen zeigt, weil auch er Würde besitzt. Ein Film für alte Leute? Jedenfalls für solche, die jung geblieben sind. Ansonsten ist
The Straight Story ein frischer, poetischer und realistischer Film für 15- bis 100-Jährige, vorausgesetzt sie lieben gute Kinogeschichten und mögen es, einmal der Hektik des Alltags zu entfliehen.
Autor/in: Frauke Hanck, 01.12.1999