Wieder ist die Stadt der Spieler Schauplatz eines Films. Nach
Showgirls von Paul Verhoeven und
Casino von Martin Scorsese präsentiert der Brite Mike Figgis die Kehrseite der Glitzer-Metropole, erzählt vom tragischen Scheitern zweier Außenseiter: dem abgehalfterten Drehbuchautor Ben Sanderson (Golden Globe und Oscar für Nicolas Cage) und dem attraktiven Callgirl Sera (Oscar-Nominierung für Elisabeth Shue). "Was bringt dich nach Las Vegas", fragt sie ihn. "Ich werde mich zu Tode trinken", antwortet Ben, denn er möchte sich einfach aus seinem bisherigen Leben ausklinken. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Produzent gefeuert. Mit einer generösen Abfindung in der Tasche fährt er von Hollywood nach Las Vegas, dorthin, wo die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen, die Liquor-Shops rund um die Uhr geöffnet sind und der amerikanische Traum wie eine Seifenblase schillert und dann zerplatzt. In dieser Welt der Illusionen sucht die Hure Sera vergeblich nach Wärme und Geborgenheit.
So schließen sich die beiden verzweifelten Menschen zusammen gegen den Rest der Welt. Ben zieht zu Sera unter einer Bedingung: Sie darf ihn nie bitten, mit dem Trinken aufzuhören. Es entwickelt sich eine intensive und bedingungslose Liebe. Um ihre Gefühle auszuleben, fahren sie in ein kleines Liebesnest in der Wüste, doch das geplante romantische Wochenende endet in einer Enttäuschung. Der Alkohol hat Ben zum Wrack gemacht. Zurück in Las Vegas verschlechtert sich sein Gesundheitszustand drastisch. Im Delirium erkennt der Alkoholiker kaum noch die Realität und randaliert in Bars und Spielcasinos. Als Sera ihn mit einer Prostituierten in ihrem Bett erwischt, wirft sie ihn hinaus. Nur noch einmal sieht sie ihn wieder – kurz vor seinem Tod.
Wenn die Hure und der Trinker sich scheinbar ohne Illusionen nähern, kommt das einem Verzweiflungsakt gleich. Sie klammern sich aneinander, um der Trostlosigkeit Einhalt zu bieten und sich gleichzeitig Halt zu geben, um dem Leben trotz aller Tiefschläge ein wenig Intimität und Glück abzutrotzen. Sie sind Außenseiter, die abseits gesellschaftlicher Konventionen ein Nischendasein führen, in dem nur die eigenen Regeln gelten. Angelpunkt ihres Überlebenspaktes auf Zeit ist die totale Akzeptanz des anderen. Sie leben im Jetzt und wissen, dass sie keine Zukunft und Perspektiven haben. Deshalb sind sie sich gegenüber ehrlich, verletzlich, aber auch rigoros. Die Achtung gegenüber dem Partner bedeutet nach ihrem Ehrenkodex den Verzicht auf Verantwortung für den anderen oder wenigstens Kritik an dessen Verhalten – und das heißt in diesem speziellen Fall den Verzicht auf notwendige Hilfe. Konsequente Selbstzerstörung erscheint für Ben der einzige Ausweg; bewusst entscheidet er sich, seinem Leben auf diese Weise ein Ende zu setzen. Und in den schäbigen Zimmern, in denen dicke Vorhänge jedes Tageslicht abhalten, entpuppt sich jede Hoffnung als Hirngespinst.
Mike Figgis macht aus dem autobiografisch gefärbten Roman von John O´Brien ein atemberaubendes Meisterwerk, das dem Zuschauer keine Atempause gönnt, ihn in die Geschichte hineinzieht, zum Mitwisser und Mittäter macht. Beim Höhenflug haben sich Figgis' kaputte Helden an der Wirklichkeit die Flügel verbrannt, nichts kann ihren freien Fall in den Abgrund mehr aufhalten. Ein düsteres Drama, das sich abseits des grellen Neonlichts und des vordergründigen Erfolgs abspielt. In Las Vegas gibt es keine Hoffnung, sondern nur Schein. Die Radikalität des Films schmerzt, zeigt er doch kompromisslos Alkoholismus als Krankheit, die Flucht ins Delirium als Flucht vor sich selbst und den Anforderungen des Lebens.
Autor/in: Margret Köhler, 01.05.1996