Lionel, vor vielen Jahren aus Guadeloupe emigriert, arbeitet als Zugführer in Paris. Er lebt in einem Vorort, gemeinsam mit seiner Tochter Joséphine, die er allein aufgezogen hat. Vater und Tochter sind ein eingespieltes Team, doch Joséphine ist erwachsen geworden, sie studiert und wird bald ihr eigenes Leben führen. Die beiden pflegen vertraute, aber nicht sehr innige Beziehungen zu ihren Nachbarn: Gabrielle, eine Taxifahrerin, ist seit langem in Lionel verliebt, der junge Noé wohnt mit seiner alten Katze in der Wohnung seiner verstorbenen Eltern und sucht zunehmend Joséphines Nähe. Und da ist Lionels Kollege, der nach der Pensionierung seinen Lebensinhalt verliert. Sie leben nebeneinander und miteinander – im Laufe des Films müssen sie alle lernen, Veränderungen anzunehmen und
loszulassen.
Zählt man lediglich die Ereignisse auf, aus denen sich die
elliptisch erzählte Handlung von Claire Denis'
35 Rum zusammensetzt, so entsteht der Eindruck einer bedeutungsarmen, losen Szenenfolge. Dieser Eindruck trügt, weil nicht das Geschehen an sich, sondern die Bilder die Geschichte dieses Films erzählen. Die Kamera konzentriert sich auf die Gesichter der meist wortkargen Figuren.
Nahaufnahmen fangen ihre Blicke ein und laden die Atmosphäre mit Gefühlen der Sehnsucht und des Abschiednehmens auf. Dann wieder folgt die Kamera in langen Einstellungen dem von Lionel geführten Zug durch die Vororte, hält in der Halbnahen die Verhältnisse der Figuren im Raum fest. Vergleichbar gelassene Distanz bestimmt die Darstellung der Lebenswelt mit ihren Wohnungen und Arbeitsplätzen und den alltäglich zurückgelegten Wegen. An keiner Stelle bedient
35 Rum das Klischee vom von Armut und Kriminalität bestimmten Migrantenleben in den Pariser Banlieues. Und doch gelingt es Denis, in dieser Geschichte einer sich verändernden Vater-Tochter-Bindung auch von sozialen Missständen und vom ewigen Fremdbleiben zu erzählen und von den Wurzeln, die einen festhalten und nähren.
Anhand von Claire Denis' 35 Rum lassen sich die Projektionen diskutieren, die den Blick auf das Fremde verstellen: Wie nimmt unsere Gesellschaft Immigranten/innen wahr? Welche Bilder vermitteln die Medien von ihren Lebensumständen? Zudem bietet der Film Anlass, über die Themen Erwachsenwerden und Loslösung von der Familie sowie über die Unterschiede in der kulturellen Identität von erster und zweiter Einwanderergeneration zu diskutieren.
Autor/in: Alexandra Seitz, 02.03.2009
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