Die alleinstehende Mutter Françoise Barnier steht vor Gericht. Weil ihr Putzjob in einer Großfleischerei weniger einbringt als das Arbeitslosengeld, hat sie in drei Supermärkten nacheinander Fleischwaren gestohlen. Die 36-Jährige hatte sich vorher nie etwas zu Schulden kommen lassen. Nur einmal war sie der Versuchung erlegen, die rechtsradikale "Front National" zu wählen. Wegen Notstands wird sie freigesprochen. Doch als der Fall zum Politikum wird, erklärt man sie in der Berufung doch für schuldig. – Zwei konträre Konzeptionen von Recht und Gerechtigkeit bestimmen die packende Sozialstudie Die Diebin von St. Lubin , die nach einer wahren Begebenheit gedreht wurde. Mit unglaublicher Differenziertheit legt Claire Devers ein gesellschaftliches Tabu offen, indem sie die Doppelmoral und Strategien der kollektiven Verdrängung sichtbar macht. So rät der Pflichtverteidiger Françoise, ungedeckte Schecks für die Miete auszustellen, weil sie dann mit Schuldenerlass rechnen könne. Aber das Stehlen mit nackter Hand werde nicht toleriert. Im Gerichtssaal meiden alle den direkten Blickkontakt mit der Angeklagten als fürchte man sich vor Ansteckung. In seinem verzweifelten Aufschrei gegen soziale Ungerechtigkeiten erinnert die Diebin von St. Lubin an Filme wie Rosetta oder Ressources Humaines .
Autor/in: Kirsten Liese, 01.05.2002