Der Jungregisseur Lehmann will in der bayrischen Provinz die Kleist-Novelle
Michael Kohlhaas als episches Historiendrama verfilmen. Doch bereits am ersten Drehtag springen die Geldgeber ab und aus dem ambitionierten Projekt droht ein improvisiertes Laienspiel zu werden: Ochse statt Pferd! Häkeljacke statt Kettenhemd! Ruine statt Burg! Lehmann aber lässt sich nicht unterkriegen. Er beschwört die Muse der Kreativität, ruft die Kraft der Einbildung an und leistet unermüdliche Überzeugungsarbeit an der zunehmend unwilliger werdenden Darstellerschar. So schafft er schließlich ein Werk der Kunst und setzt dem Idealismus des Filmschaffenden wie dem Glauben an die Macht der Bilder ein Denkmal.
Lehmann heißt der Held nicht zufällig: Der Jungregisseur im Film trägt den selben Namen wie der Regisseur von
Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel, Aron Lehmann, und kann als dessen Alter Ego verstanden werden. Umso mehr als Aron Lehmann in seiner Abschlussarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf das Dilemma eines jeden hoffnungsfrohen Filmschaffenden – ehrgeiziges Projekt trifft auf zu geringe Mittel – zum Thema macht und aus der Not eine Tugend. Indem er die schwierigen Produktionsbedingungen, die von Pech und Pannen geprägten Dreharbeiten sowie einzelne fertig gestellte Film-im-Film-Szenen ineinander fließen lässt, verwischt er zudem die Grenze zwischen bitterer Ausgangsrealität, notgedrungener Abstraktion und dem in doppelter Hinsicht fantastischen Ergebnis: einer hochmodernen Fassung des
Kohlhaas, die zugleich als kritischer Kommentar zur eigenen Entstehungsgeschichte gelesen werden kann.
Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel schichtet mehrere Ebenen – Making-of-Struktur, Film-im-Film, literarische Vorlage, Produktions-Meta-Ebene – aufeinander und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für poetologische Diskurse und (film-)ästhetische Theorien. Es lassen sich die Schnittstellen untersuchen, an denen im Film aufgrund reiner Behauptung das Imaginäre über das Tatsächliche siegt. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, über filmische Strategien der Kreation von Wirklichkeit zu sprechen. Anders gefragt: Wie notwendig ist Realismus im Kino? Sind der Fantasie tatsächlich Grenzen gesetzt? Ist das Gezeigte nicht immer dann am wahrsten, wenn es gänzlich abstrakt ist? Nicht zuletzt bietet es sich an, Kleists Novelle und den Film zu vergleichen. Ob und inwieweit wird Regisseur Lehmann (jener im Film und der reale), weil er sich der Realität des Geldmangels nicht beugt und stur an seinem Vorhaben festhält, selbst zu einem Rebellen à la Kohlhaas? Bei Kleist freilich ist dieser Kampf vergeblich. Was in beiden Fällen jedoch bleibt, ist ein Werk der Kunst.
Autor/in: Alexandra Seitz, 06.08.2013
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.