Der Film Die Welle beruht auf einem realen Vorfall an einer kalifornischen High School im Jahr 1967. Glauben Sie, dass junge Menschen, die nicht rechtsextremistisch gesinnt sind, auch heute noch zur Bildung totalitärer Gruppenstrukturen wie im Nationalsozialismus zu verführen wären?
Das kann nicht so einfach beantwortet werden. Hier hinkt jeder Vergleich. Sozialer Einfluss, Charisma, Isolation und mangelndes Selbstwertgefühl spielen dabei jedenfalls eine starke Rolle.
Die Welle handelt weniger von Autorität – obwohl ein allseits beliebter Lehrer das Experiment initiiert – als von Gruppendruck. Wie lässt sich dieses Phänomen sozialpsychologisch erklären?
Wenn eine Gruppe groß genug ist, kommt es zu einer erhöhten Anonymität des Einzelnen. Das Untergehen in der Menge kann dazu führen, dass ein Individuum weniger den gesellschaftlichen Verhaltenseinschränkungen entsprechend handelt. Man bezeichnet dieses Phänomen als Deindividuation oder auch Entpersönlichung. In dem Zustand der Deindividuation ist die rationale Kontrolle der eigenen Handlungen und die normative Orientierung geschwächt und die Bereitschaft erhöht, auf extreme Weise und im Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen zu reagieren. Solche Zustände sind uns allen bekannt. Man findet sie bei Hooligans vor und nach Fußballspielen, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten oder auch in der frühen Geschichte des Ku-Klux-Klans in den USA.
Warum spielt die Gruppengröße bei solchen Vorgängen eine wichtige Rolle?
Je mehr Mitglieder die Gruppe oder die Masse zählt, desto größer werden die Verantwortungsdiffusion und die gefühlte Anonymität. Menschen fühlen sich weniger verantwortlich für ihre eigenen Handlungen, wenn sie sich in einer größeren Ansammlung befinden. Sie haben das Gefühl, in der Menge als Individuum unterzugehen, da die Wahrscheinlichkeit, als eigenständige Person für die eigene Handlung gerade stehen zu müssen, relativ gering ist.
Welche Gruppen- und Rollenzwänge können uns dazu bringen, "zivilisatorische" Hemmungen abzustreifen?
Zum Beispiel der Konformitätsdruck. Viele Menschen fühlen sich unwohl oder unsicher, wenn sie andere Meinungen als die der Gruppenmehrheit vertreten, weil sie als sympathisch beurteilt werden wollen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem normativen Einfluss. Die Art der Gruppennormen hat übrigens auch Einfluss darauf, wie Handlungen ausfallen. Es muss nicht zwingend zu Gewalthandlungen kommen. Ist Gewalt in der Gruppe nicht als Norm etabliert oder wird sie sogar verabscheut, wird es auch im Zustand der Deindividuation nicht dazu kommen.
In dem Film Die Welle werden irgendwann programmatische Sätze eingeführt, Wellen-Zeichen, Fahnen tauchen auf, ein besonderer Gruß wird verlangt.
Hier haben Sie eigentlich das "normale" Phänomen der Identifikation. Im öffentlichen Leben würden Sie von Corporate Identity, Corporate Design oder Ähnlichem sprechen. Symbole, Hinweise, Artefakte, Logos und vieles andere werden benutzt, um ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln, um Rangordnungen herzustellen, um Macht zu erleben und um Macht ausüben zu können.
Ist Gruppenzugehörigkeit im psychischen Sinne "lebenswichtig"?
Gruppenzugehörigkeit gibt Sicherheit. Gruppenkohäsion erhöht die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Ein starkes Solidaritätsgefühl einerseits, Randgruppen andererseits erhöhen den Konformitätsdruck. Umso mehr diese Faktoren zutreffen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Anpassung an die Gruppe. Risikobereitschaft für nicht-normgerechtes Verhalten ist nicht mehr ausgeprägt, Vorurteile und entsprechendes Verhalten werden eher belohnt, sofern es nicht die eigene Gruppe betrifft.
Irgendwann entsteht innerhalb der Welle eine Hierarchie. Rote Kreuze auf den Mitgliedskarten erklären ausgewählte Mitglieder zu Kontrolleuren. Zugleich wird das Prinzip "Denunziation" eingeführt. Was macht die Welle so verlockend?
Hierarchie wird als Sicherheit erlebt, Verantwortung wird durch andere übernommen oder als nicht notwendig erachtet. Es ist angenehmer, den Weg vorgegeben zu bekommen, als ihn selber zu suchen. Ressourcen werden gespart, unangenehme Entscheidungen müssen nicht getroffen werden, "man kann sich hinter anderen verstecken". Dazu kommt das Phänomen "Neugier". Etwas ausprobieren zu können, Verhaltenskonsequenzen zu beobachten, die einem bisher unbekannt waren, Rollen zu übernehmen, zu denen man bisher keinen Zugang hatte, das alles kann einen "verlockenden" Charakter haben.
Die ursprüngliche Absicht des Lehrers ist es, die Schülerinnen und Schüler erleben zu lassen, warum sich niemand gegen den Nationalsozialismus gewehrt hat. Wie beurteilen Sie dieses Experiment?
Der Nationalsozialismus mit all seinen Entwicklungen, Auslösern, Konsequenzen und vielem anderen ist nicht durch ein derartiges Experiment abzubilden. Hier ist die Vielfalt soziologischer, psychologischer, historischer oder kultureller Aspekte zu komplex, um sie experimentell nachvollziehen zu können.