Inmitten der wilden Berglandschaft im kurdischen Siedlungsgebiet im Irak , nahe der türkischen Grenze, steht ein junges Mädchen an einer Felskante: ein schönes, trauriges Gesicht, der Blick weltabgewandt irgendwo in die Ferne gerichtet, die Füße tasten sich immer näher an den Abgrund heran. Wenn es sich die Zuschauenden auch noch so sehr wünschen, Flügel sind bei dem Mädchen nicht zu erkennen. Als sie sich abstößt, verlässt sie diese Welt für immer. Doch was für eine Welt ist das, in der die 14-jährige Agrin nicht mehr leben möchte? Die Kamera schweift über die Berge und dabei wird die bizarre Naturschönheit durch eine düster wirkende Ansammlung von altem Kriegsgerät gebrochen. Inmitten der Trümmer befindet sich ein Flüchtlingslager, in dem eine Gruppe von Waisenkindern um einen Jungen mit einer übergroßen Brille, den sie Satellit nennen, versucht, im Leben Halt zu finden und ihm einen Sinn zu geben.
Kindheit im Krieg
Viele der Kinder sind von Kriegseinwirkungen gezeichnet. Was man sieht, sind fehlende Gliedmaßen, wie es jedoch um ihr Inneres bestellt ist, lässt sich nur erahnen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sich die Kinder damit, dass sie auf den Feldern der Bauern Minen ausgraben und diese auf dem Markt verkaufen. Der Jugendliche Satellit ist für die Kinder, für die der Krieg nie wirklich aufgehört hat, so etwas wie ein Hoffnungsträger. Inmitten all der Trostlosigkeit hat sich der Junge einen erstaunlichen Optimismus bewahrt. Das gibt ihm die Kraft, die Gruppe zu organisieren und die Trostlosigkeit wenigstens für Momente vergessen zu lassen. Die kurdischen Kinder im Irak hatten in ihrem Leben niemals wirklich eine Chance, Frieden kennen zu lernen. Sie waren von den lang anhaltenden Kämpfen zwischen dem Irak und dem Iran unmittelbar betroffen, sie wurden durch türkische Angriffe bedroht, sie erlebten blutige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen des eigenen Volkes und sie wurden vom Regime Saddam Husseins systematisch aus ihren Wohnstätten vertrieben und ermordet.
Realistische Trugbilder
Im Frühjahr 2003 – in dieser Zeit spielt der Film – verbindet sich mit der bevorstehenden Invasion US-amerikanischer Truppen die Erwartung, dass sich das Schicksal der Bevölkerung bessern würde. Satellit hat durch seine Kontakte auf dem Markt einen gewissen Informationsvorsprung vor den anderen. Amerika erscheint ihm als gelobtes Land und aus dieser Vision schöpft er seinen Optimismus. Der strahlt so kräftig, dass er sogar für die Alten des Lagers, die schon mehr oder weniger resigniert haben, zu einer Art Messias wird. Als man sich gemeinsam eine Fernsehschüssel anschafft, um ausländische Programme empfangen zu können, wird Satellit zum Dolmetscher ernannt, obwohl auch er die fremde Sprache nicht verstehen kann. Doch mit den konkreten Fernsehbildern scheint sich die seherische Fähigkeit des Jungen zu verlieren.
Visionen und Albträume
Das Vorausschauen in die Zukunft übernimmt auf eine deprimierende Weise ein anderer Junge. Hengov, der beide Arme verloren hat, ist erst seit kurzer Zeit gemeinsam mit seiner Schwester Agrin und deren blindem Baby im Lager. Für ihn gibt es keine leuchtende Zukunft. Die Geschwister haben Schreckliches hinter sich. Ihr Dorf war von Saddams Truppen überfallen, die Eltern umgebracht und Agrin vergewaltigt worden. Das die Kinder traumatisch verfolgende Erlebnis wird in einer Rückblende angedeutet. Agrins verlorener Blick erfährt damit eine Erklärung und auch ihr wiederholtes Bemühen, das ungewollte Kind irgendwo auszusetzen, ist aus diesen Zusammenhängen heraus zu erklären.
Desillusioniert und verzweifelt
Hengov ist es, der immer wieder für den kleinen Neffen Verantwortung übernimmt und letztendlich genauso wie Satellit scheitert. Dieser hat sich in das fremde Mädchen verliebt. Doch Agrins Seele ist bereits gebrochen. Als sich das blinde Kleinkind in ein Minenfeld verirrt, kann Satellit es retten, wird dabei aber selbst schwer verletzt. Sogar dieses aufopferungsvolle Handeln des Jungen gibt Agrin den Lebensmut nicht zurück. Offenbar wird dadurch ihre Verzweiflung nur noch auswegloser. Sie ertränkt das Kind und springt in den Abgrund. Wenig später erreichen amerikanische Truppen das Lager. Doch diese sind offensichtlich nicht die Vertreter des von Satellit erträumten gelobten Landes. Wie Kriegsmaschinen ziehen sie blicklos an den Geschundenen vorbei. Die Kinder gehen mit dem Gefühl, dass wohl eher Hengov mit seinen Ahnungen recht behalten wird, in eine andere Richtung.
Hoffnung auf Frieden
Bahman Ghobadi setzt nicht auf ein Happy End, das den realen politischen Gegebenheiten des Nahen Ostens zuwiderläuft. Er will keine Trugbilder schaffen, sondern die Zuschauenden aufrütteln, sich dafür einzusetzen, dass den von ihm fast dokumentarisch gezeichneten Kindern in den kurdischen Siedlungsgebieten eine Lebenschance gegeben wird. Dabei geht er mit seinen Protagonisten/innen sehr liebevoll um. Er wahrt den Blick der Kinder und lässt – bisweilen auch auf humorvolle Weise – anklingen, dass es beachtens- und sogar bewundernswerte Menschen sind. Satellit symbolisiert inmitten einer Welt der Waffen jene Hoffnung für die Kinder, die sie haben könnten, wenn man ihnen nur Frieden gäbe. Agrin hingegen ist in ihrer stummen Verzweiflung Ausdruck jeglicher geschundenen Kreatur, die ohnmächtig den gnadenlosen Machtkämpfen politischer Interessen ausgeliefert ist. Agrin könnten am Felsen auch Flügel wachsen, mit denen sie in eine glücklichere Zukunft fliegen könnte. Doch dafür bräuchte es die Kraft vieler Menschen. Indem der Film einen solchen Wunsch andeutet, geht von ihm trotz aller gezeigten Not ein berührender optimistischer Grundgestus aus.
Autor/in: Klaus-Dieter Felsmann, 01.05.2005