Wendy Carroll, eine junge Frau um die 20, hat scheinbar nicht viel zu verlieren: Ihre Habseligkeiten passen in ein paar Taschen, über jeden Dollar, den sie ausgibt, führt sie akribisch Buch und nachts schläft sie in ihrem Auto, das sie und ihre Hündin Lucy nach Ketchikan, Alaska bringen soll. Dort, so hofft Wendy, wird sie Arbeit in einer Fischfabrik finden und vielleicht auch ein neues Leben beginnen können. Doch in einem Städtchen in Oregon springt plötzlich ihr Wagen nicht mehr an, womit nicht nur ihr Reiseziel in unerreichbare Ferne rückt. Gestrandet im Nirgendwo und ohne Auto obdachlos trifft Wendy eine Reihe von Entscheidungen, die für sie und Lucy schwerwiegende Folgen haben.
Wendy & Lucy mutet in seiner konzentrierten und ruhigen Machart wie eine Studie an, in der die Independent-Filmemacherin Kelly Reichardt beobachtet, was mit Menschen passiert, die über kein finanzielles und soziales Sicherheitsnetz verfügen. Dabei erfährt das Publikum kaum etwas über Wendys Hintergründe – woher sie kommt oder warum sie arbeitslos ist –, kommt ihr aber dennoch sehr nahe. Denn die Kamera lässt sie nie aus dem Auge, stellt die junge Frau, ihre Wahrnehmung und Befindlichkeit wiederholt ins Zentrum, etwa durch
Subjektiven, wenn sie in einem Tierheim an Käfigen mit herrenlosen Hunden vorbeigeht, oder auch durch
Totalen, die Wendy klein und verloren im urbanen Niemandsland zeigen. In diesen Einstellungen werden ihre Einsamkeit und die soziale Kälte einer Gesellschaft, in der man ohne Geld nicht weiterkommt, spürbar. Unterstützt wird dies durch eine kühle
Farbgebung und die minimalistische
Musik im Film: Es ist lediglich eine Melodie, die eine Frau im
Off vor sich hin summt.
Obwohl die Geschichte in den USA spielt, lässt sich Wendys Situation auch auf Deutschland übertragen, denn auch hier leben Menschen unverschuldet im sozialen Abseits. Dabei kann diskutiert werden, inwiefern sich die beiden Gesellschaftssysteme voneinander unterscheiden oder ähneln und welche Verantwortung die Gemeinschaft übernehmen kann oder soll. "Was können wir für andere tun? Was ist der Einzelne seinen Mitmenschen schuldig? Halten wir zusammen oder heißt es jeder für sich selbst?", das sind Fragen, die die Regisseurin mit ihrem Film anstoßen möchte. Darüber hinaus eignet sich
Wendy & Lucy gut für eine filmästhetische Analyse: Mit welchen Stilmitteln wird Wendy charakterisiert? Wie wird ihre Umwelt dargestellt? Was impliziert das offene Ende des Films?
Autor/in: Kirsten Taylor, 15.10.2009
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