Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za haben eines gemeinsam: Als Jugendliche sind sie von zu Hause wegzulaufen, um in Berlin auf der Straße zu leben. Im
Dokumentarfilm 9 Leben erzählen sie, was sie dazu bewogen hat, von ihren Erlebnissen als Straßenkind, und wie es ihnen heute ergeht. In ihren gebrochenen Lebensläufen, Hoffnungen, Wünschen und Ängsten spiegeln sich zum einen gesellschaftliche Konfliktfelder: Vernachlässigung durch Eltern, häusliche Gewalt, soziale Vorurteile, Obdachlosigkeit und Suchtprobleme. Zum anderen geben die sieben filmischen Porträts dem Phänomen Straßenkind ein Gesicht mit individueller Biografie.
Anders als viele
Fernseh- oder Kinodokumentationen über jugendliche Lebenswelten verzichtet die Regisseurin Maria Speth darauf, die Mitwirkenden in ihrem alltäglichen Umfeld zu zeigen. Stattdessen lässt sie die Protagonisten/innen in
Schwarz-Weiß-Aufnahmen vor weißem Hintergrund von ihrem Leben berichten und zum Teil auch musizieren. Nur selten greift die Regisseurin mit respektvoller Empathie nachfragend aus dem
Off ein, allein die Montage verbindet die verschiedenen Erzählungen zu thematischen Einheiten. Auf diese Weise konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Persönlichkeiten: auf Mimik und Gestik, auf das Gesagte und offensichtlich Verschwiegene. Klischeebilder von bettelnden oder drogenberauschten Jugendlichen gibt es in
9 Leben nicht.
Angesichts der auffälligen formalen Strenge des Films liegt eine Auseinandersetzung mit der Darstellungsweise nahe: Wie berichten Medien gewöhnlich von obdachlosen oder drogenabhängigen Jugendlichen, etwa der Buchklassiker
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1978) oder der
Dokumentarfilm Drifter (Sebastian Heidinger, Deutschland 2007)? Inwiefern unterscheidet sich
9 Leben in Themen, Stil und Eindrücke davon? So eignet sich der Film über eine Inhaltsanalyse in den Fächern Ethik, Religion und Sozialkunde hinaus dazu, im Deutsch- oder Kunstunterricht in die Darstellungsform "Porträt" einzuführen. Vor allem dienen die Aufnahmen der sieben Protagonisten/innen jedoch als Anstoß, um den Zusammenhang existenzieller Krisen von jungen Menschen und gesellschaftlicher Probleme zu erörtern, angefangen bei der Familie als kleinster sozialer Einheit.
Autor/in: Marguerite Seidel, 18.05.2011
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