Hintergrund
Elan und Illusionen: Die Realität der Schauspielschüler/innen
Melanie Wiegmann ist Schauspielerin am Staatstheater Nürnberg. Sie hat geschafft, wovon viele träumen: sie hat eine richtige Ausbildung hinter sich. Und sie hat schnell ein festes Engagement bekommen. Ihr Vertrag ist immer wieder verlängert worden. Inzwischen genießt sie in Nürnberg so etwas wie Starruhm. Aber was heißt das schon an einer Bühne, die den Geruch der Provinz nicht los wird, wo selten die Großkritiker/innen der überregionalen Medien anreisen und auch die Headhunter von Film und Fernsehen kaum vorbei schauen? Es heißt viel. Denn die Karriere der Melanie Wiegmann ist ein absoluter Glücksfall. Bei vielen, die voller Elan und Illusionen bei Schauspielschulen anklopfen, geht es nämlich ganz anders aus.
Die große Konkurrenz
Als sich Melanie Wiegmann 1992 um die Aufnahme an der Folkwang-Schule in Essen bewarb, hatte sie rund 750 Konkurrenten/innen. Nur sechs davon wurden genommen. Sie selbst wollte Schauspielerin werden, seit sie im Schultheater im "Jedermann" gespielt hatte und die Bühnenleidenschaft in ihr entzündet war. Noch vor ihrem Abitur sprach sie in Essen vor. Drei Rollen hatte sie einstudiert: Sartres Elektra in "Die Fliegen", die "Maria Magdalena" von Hebbel und die Armande aus "Die gelehrten Frauen" von Molière.
Theater: "uncool" – Spielen: "cool"
In den Schulen gibt es derzeit ein merkwürdiges Phänomen. Während Theater als Kunstform für ziemlich "uncool" gehalten wird und die Schulplatzmiete-Angebote der Bühnen an Auszehrung leiden, erfreuen sich praktische Dramatik-Kurse hohen Zuspruchs. Man spielt gern, man inszeniert gern, bastelt Kostüme und Kulissen, hantiert an Scheinwerfern und Tontechnik. Fragt man Schüler/innen, was sie davon haben, sagen sie, Bühnenerfahrung gäbe mehr Sicherheit in der Sprache und im Auftreten. Außerdem spielt der Spaß-Faktor eine Rolle. Und wenn am Ende der Vorstellung geklatscht wird, erlebt man positive Gefühle. Vielleicht ist deshalb der Andrang bei Schauspielschulen immer noch sehr groß. Der Beruf des Schauspielers/der Schauspielerin sieht auf den ersten Blick so wenig entfremdet aus.
Die Chancen der Casting-Shows
Theoretisch ist in Deutschland für den Zugang zu einem Theater-Engagement keine Ausbildung nötig. Was zählt, ist nicht Diplom oder Zeugnis, sondern das Können. Praktisch aber hat man ohne Schulabschluss höchstens durch einen Geniestreich die Chance, an einer Bühne anzukommen. Auf diesen Geniestreich setzen viele, die ohne Bühnenerfahrung direkt vor den Kameras von Film und Fernsehen landen wollen. Sie melden sich bei Castings für Vorabendserien oder sie lassen ihre Sehnsüchte in Casting-Shows als voyeuristischen Programmformaten ausbeuten. Manche werden tatsächlich genommen und bekommen drei Sätze in einer Barszene von "Verbotene Liebe" oder "Gute Zeiten Schlechte Zeiten". Andere erhalten die Chance, öffentlich um die Rolle eines "Superstars" zu kämpfen. Doch ihr schneller Triumph ist meist sehr flüchtig. Für Menschen mit ernsthafteren Absichten bieten staatliche Hochschulen und Konservatorien unter anderem in Berlin, München, Bochum, Stuttgart, Hannover und Saarbrücken Studiengänge für Schauspieler/innen an. Die Aufnahmeprüfung ist ein ziemlicher Willkürakt. In Hamburg wäre Melanie Wiegmann, die sich vorsichtshalber überall beworben hatte, überhaupt nicht angekommen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, bei etablierten Schauspielern/innen Privatunterricht zu nehmen. Die Abschlussprüfung muss dann aber wieder am staatlichen Institut abgelegt werden.
Stundenplan der Schauspielschulen
Was hat ein/e Schauspielschüler/in zu tun? Nur Rollen lernen, Auftritte üben? Melanie Wiegmann erinnert sich, dass die Ausbildung in Essen sehr psychologisch orientiert war: Es ging um genaue Selbstbeobachtung. Wann versagt die Stimme? In welchen Zusammenhängen treten Bewegungs-Blockaden auf? Wer andere Charaktere darstellen will, muss sich zuerst selbst kennen lernen. Neben Körper- und Stimmtraining müssen sich Schauspielschüler/innen mit Theaterwissenschaft auseinandersetzen, also mit Theorie und Geschichte der Bühne. Mit Praktikern/innen (Regisseuren/innen, Darstellern/innen) werden Szenen erarbeitet. Für Melanie Wiegmann stand am Ende der Schulzeit die Prüfung vor einer Kommission der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung. Wieder interpretierte sie zwei Rollen: die "Antigone" des Sophokles und Sartres "Ehrbare Dirne". Dazu kam eine Gesangsnummer von Brecht/Weill. Dann war sie Diplomschauspielerin. Der Titel ist wichtig für das erste Engagement, danach interessiert sich kaum noch jemand dafür.
Der erste Vertrag
Für Frauen ist es nach der Ausbildung noch schwerer, ein Engagement zu finden, als für Männer. Erstens streben viel mehr Frauen den Beruf der Schauspielerin an. Zweitens hält das Dramen-Repertoire weniger Frauen- als Männerrollen bereit. Wird ein/e Absolvent/in an einem Theater angenommen, erhält er/sie einen Vertrag mit dem Namen "NV-Solo" – NV bedeutet Normalvertrag. Dieser garantiert eine Anstellung von zwei Jahren – danach muss er immer neu verhandelt werden. Erst ab 15 Jahren an einem Haus ist ein/e Schauspieler/in unkündbar. Auch andere Engagements sind zeitlich meist begrenzt. So müssen sich selbst Fernsehstars, die Tatort-Kommissare/innen spielen, nach dem Dreh arbeitslos melden, wenn sie an keiner Bühne fest beschäftigt sind. Schauspieler/innen ohne Engagement legen ihr Schicksal gern in die Hände von Agenten. Die vermitteln Auftritte in Fernsehfilmen oder Tournee-Inszenierungen. Danach steht meist wieder eine Pause und das Arbeitsamt. Die Anfangsgage eines/r jungen Theaterschauspielers/in mit Festanstellung beträgt durchschnittlich 1300.- Euro. Ein bisschen ist der Vertrag Verhandlungssache. Doch damit kann man nirgendwo Reichtümer scheffeln.
Entbehrung und Leidenschaft
Auf der Bühne zu stehen oder gar vor einer Kamera, ist für viele Menschen bei ihrer Berufsentscheidung eine verlockende Perspektive. Ruhm, Vermögen und Prominenz scheinen zu winken. Aber vielleicht sollte sich jede und jeder, die/der den Beruf des/der Schauspielers/in anstrebt, zuerst das Theaterstück "Der Raub der Sabinerinnen" durchlesen. Da erfährt man im großen Monolog des Theaterdirektors Striese über die Schmiere, dass sein Beruf Entbehrung bedeutet, dass er aber für jede/n unverzichtbar ist, die/der die Leidenschaft der Masken in sich trägt.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006