Hintergrund
Paul Devrient und Alice Miller
Quellentexte zu Dani Levys Hitler-Film
Wesentliche Details des dramaturgischen Gerüsts seiner Komödie
Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler hat Dani Levy der Interpretation der Psychoanalytikerin Alice Miller zu Hitlers Kindheit entnommen, sowie dem Tagebuch des einstigen Opernsängers Paul Devrient, der Hitler im Jahr 1932 Sprachunterricht erteilte. Während Devrient in Levys Film im Beruf und der Funktion der Figur Adolf Grünbaums gespiegelt wird, nehmen die quasi therapeutischen Sitzungen mit Hitler unmittelbaren Bezug auf Millers Ausführungen über Hitlers Kindheit. Beide Texte verdeutlichen also wichtige Szenen und Regieeinfälle des Regisseurs. Das Phänomen Adolf Hitler können diese Quellen zwar ebenso wenig wie der Film erklären, wohl aber zu einem reflektierten entmythologisierenden Bild des Diktators beitragen.
Hitlers erste Jahre bis zur Machtergreifung
Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 als viertes Kind von Anna und Alois Hitler in Braunau am Inn/Österreich geboren und wuchs in streng autoritären Familienstrukturen auf. Sein Vater galt als brutaler Mensch, seine Mutter als schwache Persönlichkeit, die ebenso wie Adolf den unkontrollierten Wutausbrüchen und den Prügeln des vermutlich alkoholkranken Alois Hitler hilflos ausgeliefert war. Es existieren unterschiedliche Theorien über die Herkunft seines Großvaters, die bis heute Gerüchte nähren, Hitler habe jüdische Vorfahren gehabt. Mit 16 Jahren verließ Hitler die Realschule ohne Abschluss; im September 1908 lehnte ihn die Akademie der Bildenden Künste in Wien zum zweiten Mal ab; ab Herbst des Jahres 1909 lebte er im Obdachlosenasyl. Zu dieser Zeit verdiente er seinen Unterhalt als Postkartenmaler. Im Mai 1913 übersiedelte Hitler nach München. Bereits damals ließ er eine zutiefst nationalistische und antisemitische Weltanschauung erkennen. Als Freiwilliger trat er 1914 der bayerischen Armee bei und nahm am Ersten Weltkrieg teil. Im September 1919 wurde er Mitglied der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP), deren Umbenennung in die NSDAP ein Jahr später erfolgte. In der Partei machte er als erfolgreicher Redner auf sich aufmerksam, der eine zunehmende Anziehungskraft auf sein Publikum ausübte. 1921 avancierte Hitler zum Parteivorsitzenden der NSDAP mit diktatorischen Vollmachten. Nach dem niedergeschlagenen Putschversuch im November 1923 wurde er 1924 im später für propagandistische Zwecke der Nationalsozialisten genutzten "Hitler-Prozess" wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg/Lech verurteilt.
Hitler schrieb noch in der Haft, aus der er im Dezember 1924 vorzeitig entlassen wurde, am ersten Band von Mein Kampf. Dieser erschien im Juli 1925, der zweite folgte 1926. In diesem Werk zeigte er nicht nur seinen biografischen Werdegang auf, sondern führte die maßgeblichen Grundzüge der nationalsozialistischen Ideologie aus, deren Kernelemente ein abgrundtief rassistisches und nationalistisches Welt- und Menschenbild sind. In der krisengeschüttelten Endzeit der Weimarer Republik, die von hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Verelendung geprägt war, verzeichnete die NSDAP seit den Reichstagswahlen vom September 1930 breite Erfolge in der deutschen Bevölkerung. Sie entwickelte sich zur Massenpartei und ging aus den Reichstagswahlen vom Juli 1932 als Wahlsieger mit 37,4 Prozent der Stimmen hervor. Nur kurzfristig durch das vergleichsweise negative Wahlergebnis von November 1932 zurückgeworfen (33 Prozent), blieb die NSDAP jedoch stärkste Partei. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. In den folgenden zwölf Jahren führte Hitler Deutschland und die ganze Welt an einen Abgrund. Er entfachte den Zweiten Weltkrieg, der zu vielen Millionen Toten führte, und war die treibende Kraft am Holocaust der Juden, bis er am 30. April 1945 in Berlin gemeinsam mit seiner kurz zuvor geheirateten Geliebten Eva Braun Selbstmord beging.
Alice Miller und die "Schwarze Pädagogik"
Die Kindheitsforscherin Alice Miller, Doktorin der Philosophie, Psychologie und Soziologie, untersuchte in ihrem 1980 erschienenen Buch Am Anfang war Erziehung die Auswirkungen der "Schwarzen Pädagogik", also gewalttätiger, autoritärer und repressiver Erziehungsmethoden auf Kinder. Miller sieht eine gewalttätig erlebte Kindheit ursächlich für die Genese psychischer Erkrankungen an. In Anlehnung an psychoanalytische Theorien verdeutlicht sie beispielhaft anhand der durch Misshandlungen geprägten Kindheit Adolf Hitlers, wie dieser unbewusst seine traumatischen Kindheitserlebnisse im Erwachsenenleben reinszenierte und letztlich an andere weitergab. Zudem geht sie von der These aus, dass die jahrhundertealten, Menschen verachtenden Erziehungsziele der "Schwarzen Pädagogik", die die Generation des NS-Staates prägten, zur bedingungslosen Gefolgschaft von Millionen Menschen beitrugen.
Der Aufstieg Adolf Hitlers zum Reichskanzler beziehungsweise "Führer" des "Dritten Reiches" wird von Alice Miller jenseits politischer, historischer oder soziologischer Interpretationsansätze als Geschichte eines in psychischer und physischer Hinsicht misshandelten Kindes gedeutet, das sich für seine erlittene Hilflosigkeit und früh erfahrene Demütigungen rächt. In diesem Zusammenhang erklärt sie die Familie Adolf Hitlers zum "Prototyp des totalitären Regimes", in der der brutale Vater als "Herrscher" auftrat. Miller interpretiert Hitlers destruktiven Vernichtungswillen gegenüber den europäischen Juden als Mittel, nie durchlebte Hassgefühle gegenüber dem Vater Raum zu geben. Sie schreibt: "Wo die Trauerarbeit nicht möglich war, wird im Wiederholungszwang versucht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen und die einstige tragische Passivität mit Hilfe der heutigen Aktivität aus der Welt zu schaffen." "Heilung" kann ihrer Meinung nach nur erfolgen, wenn der erwachsene Mensch Zugang zu diesen Gefühlen der Erniedrigung erlangt und diese erneut durchlebt.
Nachhilfe in Rhetorik durch Paul Devrient
Bereits in Mein Kampf zeigte Hitler auf, dass er sich als rhetorisches Naturtalent verstand. Auch Zeitgenossen/innen oder Biografen/innen hoben wiederholt seine charismatische, geradezu überwältigende Wirkung auf sein Publikum hervor. Die US-amerikanische Zeitschrift Vanity Fair bezeichnete ihn 1931 als einen bedeutenden Redner der Gegenwart – neben Benito Mussolini, Josef Stalin oder Mahatma Gandhi – und attestierte ihm eine "hypnotische" Wirkung auf sein Publikum. So ungebrochen lässt sich dieses Klischee jedoch nicht aufrechterhalten. 1932 wurde der in den 1920er- und 30er-Jahren in Berlin, Barcelona und New York gefeierte Operntenor Paul Devrient (1890-1973) engagiert, um Hitler Stimm- beziehungsweise Sprachunterricht zu erteilen. Dies erfolgte offiziell aus medizinischen Gründen, unter anderem waren Hitlers Stimmbänder stark strapaziert. Für diese Leistung, die vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde, erhielt Devrient monatlich ein Honorar von 1.000 Mark. Devrient begleitete Hitler auf seinen Wahlkampfreisen zwischen April und Juli 1932. Hitler ließ sich zu Beginn dieses Unterrichts nur widerstrebend auf eine Zusammenarbeit mit Devrient ein, da ihm weitaus mehr an den Inhalten seiner Reden, als an einer ausgefeilten Rhetorik gelegen war und Devrient durchaus Kritik an ihm übte.
Devrient war während dieser Zeit eifrig bemüht, an Hitlers Rhetorik zu arbeiten, dessen Wahlkampfauftritte mit ihm kritisch durchzuarbeiten und ihm Entspannungstechniken beizubringen; unter anderem praktizierte er mit Hitler bestimmte Atemtechniken und Autogenes Training. Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann stellte 1932 fest, dass sich Hitlers Sprechweise – "mitreißend wie nie zuvor" - verändert habe. Paul Devrient hielt die Erlebnisse mit seinem Schüler Hitler in Form eines Tagebuchs fest. Der Duktus dieser Aufzeichnungen ist nahezu unpolitisch, da sich Devrient in erster Linie als Künstler verstand, der einzig die rhetorischen und sprachlichen Qualitäten Hitlers optimieren wollte – mit dem Ziel der "vollkommenen Beherrschung" der Zuhörer/innen. Daher bleiben Hitlers antisemitische Hetzreden in diesem Tagebuch rein deskriptiv. Immerhin konstatierte Devrient, dass Hitler an solchen Stellen besonders emotional reagierte und sich geradezu in Rage redete. Nach dem Krieg trat der ehemalige Operntenor nicht mit der Tatsache dieses erteilten Unterrichts an die Öffentlichkeit, da er sich bis zu seinem Tod Vorwürfe gemacht haben soll, Hitler mit zur Macht verholfen zu haben.
Autor/in: Verena Walter, Zentrum für Antisemitsmusforschung, 09.01.2007
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