Das Interview führte Margret Köhler.
Lukas Moodysson (links) bei den Dreharbeiten
Sie lassen uns kaum ein Fünkchen Hoffnung. Nach dieser deprimierenden Geschichte verliert man den Glauben an die Menschheit.
Mit Recht, die bewegt sich am Abgrund. Die Schere zwischen Reich und Arm, zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen, öffnet sich immer weiter. Wir können der Gewalt nicht entgehen, sie ist überall. Es ist fünf vor 12 für die Menschheit. Wenn wir nichts unternehmen, an den sozialen Ungerechtigkeiten nichts ändern, wird die Katastrophe über uns hereinbrechen. Der 11. September war nur der Anfang.
Wie entstand die Idee zu diesem Film, gab es einen konkreten Ausgangspunkt?
Ich kann nicht von Inspiration reden. Tausende junger Mädchen aus dem früheren Ostblock träumen von einer besseren Zukunft im Westen. Sie landen in einer schrecklichen Form moderner Sklaverei – der Zwangsprostitution. Lilja ist eine von ihnen. Mir kommt es vor, als habe mir jemand auf die Schulter geklopft, der liebe Gott oder wer auch immer, und gesagt: Mach' diesen Film.
Das hört sich nach religiöser Überzeugung an.
Ich bin nicht religiös im herkömmlichen Sinn, mit der Kirche und ihrer Show habe ich nichts im Sinn. Aber ich glaube an Gott auf eine sehr kindliche und sehr untheologische und untheoretische Weise.
Wie haben Sie recherchiert?
Ich habe viel gelesen und beobachte ganz einfach, was um mich herum passiert. Den Prozess der Themenfindung kontrolliere ich nicht, sondern lasse mich treiben. Die betroffenen Mädchen selbst schweigen oft aus Scham, es ist nur sehr schwer, Kontakt mit ihnen zu bekommen. Aber wer mit offenen Augen durch die Welt geht, versteht, was passiert. Ich hoffe, dass viele junge Menschen in Russland und den anderen östlichen Ländern diesen Film sehen und sich dreimal überlegen, ob sie einen Job im Ausland annehmen oder nicht. Die Handlung hätte allerdings auch woanders spielen können, Frauen werden nicht nur in dieser Weltregion ausgebeutet, sondern überall. Das Armutsgefälle bringt die Menschen oft in solche verzweifelte Situationen.
Inwieweit sehen Sie Ihren Film als politisches Statement?
Als Regisseur trage ich besondere Verantwortung und hoffe insgeheim, ein wenig die Welt verändern zu können. Diese befindet sich nicht in einem Status quo, sondern ist ständigem Wechsel unterworfen. Jeder Film kann etwas bewirken – im Guten wie im Schlechten, selbst der dümmste Hollywoodfilm. Filme be- und entkräftigen Vorurteile, vermitteln konservative oder moderne Rollenbilder. Das zeigt langfristig Wirkung. Warum sonst legen Diktatoren soviel Wert auf den Film als Propagandamittel? Ich hoffe,
Lilja 4-Ever schärft das Bewusstsein. Einige der Zuschauer in Schweden weinten, andere wurden wütend, weil sie ahnten, dass diese Form der Prostitution vielleicht im Nebenhaus passiert, in ihrem Viertel. Um das klarzumachen, habe ich bewusst die Szenen in Schweden in den Straßen meiner Heimatstadt gedreht.
Wie haben Sie mit den Russisch sprechenden Schauspielern/innen gearbeitet?
Ein Übersetzer vermittelte die wichtigsten Informationen. Ich habe den Schauspielern/innen und ihrer Intuition vertraut, ihnen sehr viel Freiheit zur Improvisation gelassen. Es gab kurze Vorgaben zur Szene, aber nicht die Erklärung jedes Details bis ins Kleinste.
Was reizt Sie am Thema Erwachsenwerden, das in Ihren drei bisherigen Filmen vorkommt.
Mich bewegt die Suche junger Menschen nach Perspektive und ihre Unsicherheit dem Leben gegenüber. Man kann nicht früh genug anfangen, sie beim Schritt in die Zukunft zu unterstützen. Mit meinem siebenjährigen Sohn rede ich über Politik und Religion, beispielsweise beim Einkaufen. Wenn er wissen will, warum manche Leute Geld haben und andere nicht, oder er sich ein teures Spielzeug wünscht, sage ich ihm, wie lange ich oder andere dafür arbeiten müssen. Kinder haben ein Gespür für Ungerechtigkeit und sie sind immer die Schwächsten der Gesellschaft.
Die Musik spielt eine zentrale Rolle. Wonach haben Sie die Stücke ausgesucht?
Ich entwickele keinen genauen Plan, sondern höre mit meinem Cutter eine Unmenge von Musik an. Sie muss etwas mit der Zeit zu tun haben und in den kreativen Kontext passen. Am Ende reichte das Spektrum von Klassik über russischen Pop bis Techno. Manchmal sind wir in Discos gegangen, um eine Idee zu bekommen, was die jungen Leute mögen, wonach sie tanzen. In Estland habe ich mal den Bandnamen Rammstein als Graffiti auf einer Mauer entdeckt und war dann fasziniert von der destruktiven wie positiven Energie dieser Gruppe.
Was bedeutet das Bild des Engels?
Als Kind habe ich mir das Paradies von Engeln bevölkert vorgestellt, die uns auch auf der Erde leiten. Jetzt bin ich erwachsen und sehe sie trotz allen Elends als Symbol für Hoffnung. Irgendetwas braucht der Mensch doch, wenn er ganz unten ist.