Irgendwo im Mittleren Westen der USA spielt sich eine Tragödie ab. Brandon Teena, ein junger Mann, ist anders als die übrigen jungen Männer in Falls City. Hochaufgeschossen, schmal, mit einem unwiderstehlichen Lachen, umwerfend charmant. Ein Traum von einem Mann – finden nicht nur Candace, Lana und Kate, sondern auch John und Tom, alle Mitglieder einer Clique. Während die jungen Frauen ihre Nachtschichten in der Fabrik oder Bar schieben, hängen die Männer in den Country-Clubs herum, geben sich in ihrer Körpersprache rau, wie 'wahre' Männer eben. Brandon ist anders, weil er in Wahrheit eine Frau ist, die ein Mann sein will: die Haare kurz, die Brüste weggebunden, die Hose ausgestopft zum Zeichen praller Männlichkeit, will Teena Brandon, so ihr richtiger Name, ihren Traum leben, hat sich aufgemacht aus einem Trailerpark in Lincoln, Nebraska, um ihr Glück zu finden. Brandon ist keine Transsexuelle, keine Lesbe: sie erlebt sich als Mann, will als Mann akzeptiert und geliebt werden. In dem kleinen Provinznest hat sie ihren Ort und ihr Publikum gefunden; hier wird sie in ihrer neuen Rolle angenommen. Sie genießt es, mit den Männern zu trinken, zu rauchen und sich zu prügeln, trägt die ersten Blessuren wie Initiationsmale und vermag auch im Kraft- und Geschicklichkeitsmessen bei nächtlichen Autotouren zu bestehen. Die Frauen lieben Brandons Einfühlsamkeit und Sensibilität, die Männer sind fasziniert von seiner Fremdheit. Doch an kleinen Gesten, an ihren Blicken kündigt sich früh schon das Unheil an: Denn Brandon hat ein Auge auf Lana geworfen, die laszive, umschwärmte Schönheit, die indes John als seinen Besitz betrachtet. In Lana hat Brandon eine Verwandte im Geiste gefunden. Auch sie träumt von einem anderen Leben, will der Tristesse der Provinz, der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit ihres Lebens entkommen. Brandon steht für ihre Sehnsüchte; durch 'seine' Andersartigkeit entwickelt sie eine Distanz zu ihrem eigenen Leben, ihrem sozialen Umfeld. Die beiden Männer haben dies längst gespürt, reagieren mehr und mehr misstrauisch, provokant und unterschwellig aggressiv. Die beiden Ex-Häftlinge haben keine Träume, keine Fantasien, keine Zukunft. Tag für Tag hängen sie herum, lungern in den Straßen, wälzen sich auf der Couch vor dem TV, dröhnen sich zu: sozial Entwurzelte, die sich im Kreis drehen, ihr Leben mit den immergleichen Leuten verbracht haben und in ewiggleicher Weise um ihre Anerkennung als Männer ringen. Stolz zeigen sie, die Vertreter einer White-Trash-Kultur, ihre Narben aus Kampf und Selbstverstümmelung, sprachlos, unfähig zur Reflexion, ohne Gespür für sich selbst und andere. Sie, die ihr Selbstwertgefühl nur aus ihrem kulturell zugeschriebenen männlichen Rollenverständnis beziehen und ihre Aggressivität nur mühsam eindämmen können, laufen vollends aus dem Ruder, als sie erkennen müssen, dass ausgerechnet Brandon, der erfolgreiche Mann, in Wahrheit eine Frau ist. Doch ihr Schock ist nicht der Schock der Frauen: Die gewaltsame Aufdeckung der wahren geschlechtlichen Identität Brandons führt wohl zu erster Distanz und Ablehnung, letztendlich aber nicht zu der männlicherseits erhofften Parteinahme und Ausgrenzung. Nachdem John und Tom, nun gänzlich außer sich, Brandon brutal vergewaltigt und zusammengeschlagen, sie als weibliches Wesen missbraucht haben, nehmen die Frauen Brandon als eine der ihren an, fühlen mit ihr und zeigen sich entsetzt von der männlichen Gewalt. Allein Lanas Mutter, eine vom Leben desillusionierte, verkommene Frau, tut sich schwer in der Akzeptanz einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Denn Lana bleibt sich treu, hält fest an ihrer Liebe zu Brandon und an ihren Träumen und Sehnsüchten, an ihren Ausbruchsfantasien. Als die Männer erkennen müssen, dass die erfahrene Erniedrigung und Gewalt Brandon nicht gebrochen hat und die Welt nicht in das alte, vertraute Gleichgewicht zurückfinden will, sehen sie für sich keinen anderen Weg, als Brandon zu töten, ganz auszulöschen.
Boys Don't Cry erzählt seine Geschichte nach einer wahren Begebenheit, ohne Realität abzubilden, eine soziologische Studie abzugeben. Der Film interessiert sich in der Figur von Brandon für eine Persönlichkeit, die sich selbst entworfen und inszeniert hat und bedingungslos ihre Träume und Fantasien leben will – und dies ausgerechnet in einem unwirtlichen, von sozialen Verwerfungen und Hoffnungslosigkeit geprägten, gesellschaftlichen Mikrokosmos.
Boys Don't Cry ist dank seiner hervorragenden Darsteller, denen keine Figur zum Klischee, zum Stereotyp gerät, nicht nur ein beeindruckender, sondern trotz seiner bedrückenden und düsteren Inszenierung eines tristen und kaputten Milieus auch ein hoffnungsvoller, ein Mut machender Film: im Geiste von Teena Brandon ein Plädoyer für die Freiheit – so zu sein und zu leben, wie man will.
Autor/in: Frauke Wiegmann, Michael Conrad, 01.01.2000