Hintergrund
Wozu sind die Väter da?
Die potenziell lebenslang wirksamen Folgen der Abwesenheit des Vaters in den frühen kindlichen Entwicklungsjahren wurden lange nicht erkannt und sogar negiert. In Deutschland werden die Langzeitwirkungen des dramatischen und epochalen Traumas der kriegsbedingten Vaterlosigkeit erst jetzt – nach über einem halben Jahrhundert kollektiver Verleugnung – nicht nur in psychotherapeutischen Praxen sondern auch in systematischen empirischen Untersuchungen fassbar.
Langzeitfolgen einer vaterlosen Gesellschaft
Das biografische Echo dieser bei den "Kindern des Kriegs" millionenfach erlebten traumatischen Erfahrung des fehlenden Kontakts zum Vater ist an überdurchschnittlichen seelischen und psychosomatischen Belastungen zu erkennen, die bis heute andauern, obwohl deren Ursache bereits viele Jahrzehnte zurückliegt. Männer bzw. Väter sind aber auch heute häufig nicht für ihre Kinder verfügbar. Wenngleich sich die Zuwendungsbereitschaft der Väter in den letzten Jahren erhöht hat, sind sie – meistens berufsbedingt – in den Familien oft abwesend. Nicht zu übersehen ist auch der besonders für viele Jungen problematische Männermangel in Kindergärten und Grundschulen. Und der Anteil der in Einelternfamilien zumeist bei den Müttern aufwachsenden Kinder beträgt heute rund 20 Prozent. Dabei ist auch der Vater sehr wichtig für die Entwicklung des Kindes. Die Folgen der neuen Vaterlosigkeit und die Bedeutung der väterlichen Präsenz und Zuwendung für die kindliche Entwicklung und das spätere Erwachsenenleben werden heute durch Befunde wissenschaftlicher Verlaufsuntersuchungen belegt. Kinder aus Trennungsfamilien haben ein erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten, spätere eigene Beziehungskonflikte und eine verringerte Lebenszufriedenheit.
Bindungsfähigkeit
Aus entwicklungspsychologischer Sicht lassen sich vier Bereiche abgrenzen, in denen der Vater mit eigenen Beziehungsangeboten die Entwicklung seiner Kinder fördern kann: Nach der Geburt des Kindes sollte er die Mutter durch fürsorgliche Einfühlung und Versorgung dabei unterstützen, eine sichere Bindung zum Säugling aufzubauen. Das setzt voraus, dass er sich mit den Bindungsbedürfnissen des Säuglings identifizieren kann. Wenn er das Kind aber beispielsweise unbewusst als Rivalen um die Liebe der Mutter erlebt oder kindlich-eifersüchtig auf die Zuwendung der Mutter zum Baby reagiert, wird es der Mutter schwerer fallen, eine entspannte, auf das Erleben des Kindes zentrierte Wahrnehmungs- und Einfühlungsfähigkeit zu entwickeln, von der die positive Entwicklung des Kindes sehr weit gehend abhängt. Väter werden vom Säugling sehr früh als eigenständige, von der Mutter getrennte, besondere und interessante Person wahrgenommen. Sie steuern eigene Beziehungsaspekte bei und zeigen von Anfang an einen von Müttern unterschiedlichen Umgangsstil mit ihren Kindern: Väter betonen eher nach außen gerichtete, motorisch-spielerische und stimulativ-explorative Aspekte in der Beziehung zum Kind, während in der Beziehungsgestaltung der Mütter eher körperliche Nähe und feinfühlige Zentrierung auf affektive Prozesse wichtig sind.
Unterstützung der Lösungsbestrebungen
Die separative Funktion des Vaters fördert auch die Lösung des Kindes aus der engen, frühen Mutterbindung im Alter von ein bis zwei Jahren. Diese notwendigen Trennungsbestrebungen werden durch Reifung der körperlichen und mentalen Fähigkeiten verstärkt. In diesem Zusammenhang auftretende Ängste des Kindes kann der Vater durch spielerisches Unterstützen der kindlichen Neugier und Erkundung seiner Umwelt mildern und auffangen. Wenn er sich dem Kleinkind, das in dieser Phase zwischen Autonomiebestrebungen und Verlustängsten hin und her gerissen wird, als stabile Beziehungsalternative vermittelt, hilft er ihm, ganz eigene und neue positive Erfahrungen zu sammeln und seine Selbstständigkeit zu entwickeln.
Sexuelle Rollenfindung
Darüber hinaus unterstützt der Vater auch die sexuelle Rollenfindung des Kindes. Hierzu trägt das zwischen Töchtern und Söhnen stärker nach Geschlechtsrollen differenzierende Verhalten von Vätern bei, wodurch sie die Konsolidierung der sexuellen Identität ihrer Kinder fördern. Bei diesem Reifungsschritt – im Alter zwischen etwa drei und sechs Jahren – ist der Vater als emotional präsente männliche Identifikationsfigur und als Liebespartner der Mutter für die Entwicklung einer stabilen, selbstbewussten sexuellen Identität des Jungen von prägender Bedeutung. Abwesenheit des Vaters oder "väterliche" Gewalt als "Erziehungsmittel" anstelle von spielerisch-sportlichem Rivalisieren oder Anleitung können diesen Prozess nachhaltig gefährden. Keine noch so einfühlungsbereite Mutter kann einem Jungen letztlich vermitteln, wie es sein könnte, (eines Tages) ein Mann oder ein Vater zu sein. Sie kann dem Jungen aber diesen Reifungsschritt erleichtern, wenn das Unbewusste des Kindes im Unbewussten der Mutter ein dort internalisiertes positives – auch sexuell geliebtes – inneres Bild des Vaters auffinden darf. Diese Konstellation hängt jedoch nicht zuletzt von positiven Erfahrungen der Mutter mit ihrem eigenen Vater ab. Auch für die Entwicklung und Festigung der sexuellen Identität des Mädchens ist in dieser Phase der Erprobung späterer weiblicher Kompetenzen die spielerische und kindgerechte Begleitung und Wertschätzung erster "libidinöser Gehversuche" durch den Vater sehr wichtig.
Identitätsfindung
Ein intensives väterliches Engagement wirkt sich bereits bei Vorschulkindern positiv auf soziale und kognitive Kompetenzen, auf den späteren Schulerfolg sowie auf die Verinnerlichung moralischer Wertvorstellungen aus. Das bedeutet, dass der Vater besonders dem Jungen auch in späteren Lebensphasen als Modell zur Bewältigung obligatorischer biografischer Schwellensituationen mit Krisenpotenzial dient. Sein Vorbild im Umgang mit Partnerwahl, Kindern, Trennung, Verlusten, Krankheit und Tod ist in den unbewussten Anteilen der Identität auch des Erwachsenen von großer Bedeutung.
Matthias Franz ist Professor und Facharzt für Psychosomatische Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, er forscht u. a. zu Verlauf, Ursachen und Prävention psychischer/psychosomatischer Erkrankungen
Autor/in: Prof. Dr. med. Matthias Franz, 21.09.2006