Hintergrund
Über die Unfähigkeit zu trauern
Die Rede von der Tabuisierung des Todes und der Schwierigkeit zu trauern ist in aller Munde, ohne dass sich dadurch etwas an den Verhältnissen geändert hätte. Es klingt inzwischen wie ein beschwichtigendes Ritual, wenn gleichzeitig die Verdrängung des Todes und der Trauer beklagt, aber die Räume und Zeiten weiter verengt werden, in denen man Gefühle offen zeigen und Trauer leben kann.
Motivvorlage: "Das Zimmer meines Sohnes"
Trauer und Verfügbarkeit
Jeder Mensch kann trauern. So wie der Körper des Menschen die Kraft hat, sich gegen Krankheiten zu wehren und nach Verletzungen zu heilen, trägt auch die Seele in sich die Fähigkeit, Veränderungen und Verlust wahrzunehmen, zu verarbeiten und sich auf die neue Realität einzustellen. Trennung, Verlust und Abschied sind die natürliche Kehrseite der Lebendigkeit des Lebens. So wie Neues entsteht und geboren wird, vergeht Altes. Allerdings ist ein Mensch im Prozess der Trauer nicht in derselben Weise verfügbar, wie ihn eine Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft verfügbar haben will. Genau dort entsteht das Problem, das wir allgemein als Tabuisierung des Todes und der Trauer beschreiben.
Der Prozess des Trauerns
Bei aller Individualität und Besonderheit der je eigenen Situation lässt sich der Prozess des Trauerns, also der seelische Heilungsprozess, der auf eine tiefgreifende Veränderungs- und Verlusterfahrung folgt, in seinen Grundzügen gut beschreiben: Einem Menschen widerfährt ein tiefer Schmerz. Seine Verhältnisse sind auf den Kopf gestellt, die Wirklichkeit verliert für ihn Grundkoordinaten, die ihm gerade eben noch selbstverständlich waren. Er reagiert verwirrt, verrückt, leugnet, lenkt ab, scheint die Konsequenz der Situation nicht erkennen zu wollen oder zu können. Erst mit Abstand lässt sich verstehen, dass es nicht verrückt ist, auf eine im wörtlichen Sinn verrückte Wirklichkeit verrückt zu reagieren. Oft beginnen aber dann schon die Manipulationen und Einsprüche von außen. Die schleichende Pathologisierung der Trauernden richtet eine in sich ganz widersprüchliche Botschaft an sie: Sei so normal wie wir, so realistisch, ansprechbar, überlegt – und zugleich: Weiche der Situation nicht aus, verharmlose nicht, bewältige deine Trauer richtig! Aber das eben ist das Wesen der Trauer, dass sie sich nicht bewältigen lässt.
Motivvorlage: "Das Zimmer meines Sohnes"
Neue Spielräume
Wenn sich der Geist eines Menschen langsam auf die neue Realität einstellt, wandern die Gefühle durch alle Regionen und Register, die dem menschlichen Fühlen möglich sind. Wie fühlt sich das an, was jetzt ist? Die neue Situation muss in ihrer gefühlsmäßigen Relevanz im täglichen Erleben erspürt werden: in tiefer Traurigkeit und in selten gekannter Lebenslust, in Liebe und Zuwendung zu den vertrauten Menschen und zugleich in schroffer Abweisung und Wut. Weil Leben Sich-Regen heißt, gilt es schließlich, sich auch in einer dritten Dimension auf die neue Realität einzustellen: Handelnd erproben Trauernde die Spielräume, die der Verlust noch gelassen hat bzw. neu eröffnet. Weil die Koordinaten der eigenen Existenz verschoben sind, gelten auch nicht mehr die alten Muster und Leitlinien des Handelns. Berufstätigkeit, Beziehungen, Gestaltung der Freizeit – alles steht neu zur Disposition und damit verändert sich auch die Wahrnehmung der eigenen Person.
Verhinderte Trauerarbeit
Dieser vielschichtige Prozess des seelischen Heilens lässt sich nicht steuern und bewältigen. Es ist eine Erfahrung des Lebens, dass die Seele in sich die Kraft trägt zu heilen, aber nur, wenn es einen Raum und einen eigenen Rhythmus dafür gibt. Die Unfähigkeit zu trauern ist in Wahrheit die Unfähigkeit oder die Weigerung, der Trauer Platz zu geben und sich einzugestehen, dass sie für eine nicht vorhersehbare Zeit und in nicht kalkulierbarem Maß Kräfte und Energien bindet. Die Tarifverträge und Urlaubsregelungen für Angestellte und Beamte reduzieren seit Jahren regelmäßig die Urlaubstage aus persönlichen Gründen. Stirbt der Ehepartner oder ein leibliches Kind, sind in der Regel zwei Tage vorgesehen, beim Tod der Eltern oder Geschwister keine. Die Anerkennung von Bildungsurlaubsmaßnahmen zum Themenkreis Trauer und Verlustverarbeitung wird mit dem Hinweis verweigert, es handele sich um Fragen der privaten Lebensführung. Das sind nur Indizien neben vielen anderen, wie dem Verlust von öffentlichen Trauerritualen, Trauerzeiten, Trauerorten: Alle zusammen lassen sie erahnen, wie Menschen Trauer erschwert wird, so dass sie tatsächlich unfähig werden, nach einem tiefgreifenden Verlust seelisch wieder zu gesunden.
Helfer in Not
Die Problematik, dass Trauer gerade dadurch verhindert wird, indem sie kanalisiert und bewältigt werden soll, erhält eine besondere Zuspitzung, wenn Menschen in helfenden Berufen selbst unmittelbar betroffen sind. Von ihnen wird erwartet, dass sie professionell, d. h. in wiederholbarer und standardisierter Routine mit diesem die Gesellschaft bedrohenden Thema umgehen können. Auch wenn sie ihren Klienten gegenüber hundertmal wissen und sagen, dass es gelte, der Trauer den Raum zu gewähren, den sie in Anspruch nimmt, sind sie durch solche Erwartungshaltungen doppelt belastet, wenn sie plötzlich Schmerz und Trauer für sich selbst handhabbar machen sollen. Eine Trauer aber, die in die Hand genommen wird, statt sich von ihr nehmen und tragen zu lassen, chronifiziert und wird zum bleibenden Schmerz.
Autor/in: Hans-Peter Daub (punctum, Bonn), 21.09.2006