goEast – 2. Festival des mittel- und osteuropäischen Films 2002
Das erst im vergangenen Jahr in Wiesbaden initiierte Festival des mittel- und osteuropäischen Films hat sich programmatisch dem Filmschaffen östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs verschrieben. Hierzulande werden Filme aus dem "Osten" vollkommen zu Unrecht immer noch viel zu wenig beachtet, obwohl sich nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes die meisten Filmindustrien dort wieder gefangen haben und man sich erneut eigenen Werten und traditionellen filmischen Qualitäten zuwendet. Mit dem vom Publikum gut angenommenen Festival, das vom Deutschen Filminstitut (DIF) in Frankfurt geleitet und u. a. vom Fernsehsender 3sat unterstützt wird, könnte sich das bald ändern. Es versteht sich (wie Selb und Cottbus mit ähnlichem Fokus auf den Osten) als kultureller Beitrag zum Zusammenwachsen Europas und präsentierte neben aktuellen Filmen in einem dreifachen Wettbewerb für Spiel-, Dokumentar- und Hochschulfilme auch historische Reihen, wissenschaftliche Begleitveranstaltungen, Vorträge und Diskussionen.
Gifte, oder die Weltgeschichte der Vergiftungen
Das letzte Abendmahl
Rückblicke und Vorbilder
Dramaturgisch und visuell breit gefächert zeigte sich der Spielfilmwettbewerb. Zwei große Themen waren in fast allen Filmen gegenwärtig: Armut und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. In
Gifte, oder die Weltgeschichte der Vergiftungen von Karen Sachnazarov versucht ein junger Schauspieler seine untreue Ehefrau zu vergiften, wird jedoch nachdenklich, als er über einen geheimnisvollen Freund mit berühmten Giftmorden aus der Geschichte konfrontiert wird. Ein in Ausstattung und Inszenierungsstil aufwändiger Film ganz im Stil westeuropäischer Kulturgeschichte. – Westliche Vorbilder, gemischt mit osteuropäischen Werthaltungen, nimmt sich auch der slowenische Regisseur Vijko Anzeljc in
Das letzte Abendmahl , der dafür den Preis für die Beste Regie erhielt. Der Film erinnert mit seinen einfachen ästhetischen Stilmitteln und in seiner Grundstimmung etwas an Lars von Triers DOGMA-Film
Idioten und handelt von zwei männlichen, geistig behinderten Patienten aus der Psychiatrie, die auf ihrer Flucht eine Videokamera entwenden. "Draußen in der Freiheit", also in der gesellschaftlichen Realität, dokumentieren sie mit dieser Kamera ihre eigenen Erfahrungen und die Rettungsversuche für eine Prostituierte, die ihrem Leben ein Ende setzen möchte, weil man ihr nur Verachtung entgegen bringt. Eine gelungene Tragikomödie mit schwarzem Humor, die brutale Szenen menschlicher Erniedrigung mit Bildern voller Poesie und Wärme kontrastiert.
Philanthrop
Soziale Realität als Komödie
Die rumänisch-französische Koproduktion Philanthrop von Nae Caranfil geht neue, jedenfalls äußerst unterhaltsame Wege in Darstellung und Reflektion des Elends im postkommunistischen Rumänien. Gleich zu Beginn wird das Mitleid des Zuschauers auf die Probe gestellt, als ein nettes Ehepaar an ihrem Hochzeitstag in einem guten Restaurant die überteuerte Rechnung nicht begleichen kann. Was sich zunächst als kapitalistische Ausbeutung präsentiert, entpuppt sich im Verlauf der vielschichtig erzählten Geschichte als Fake. Und der vermeintliche "Menschenfreund" (des Filmtitels) ist in Wirklichkeit ein gewiefter Gauner, der das Spendenverhalten der Leute als lukratives Geschäft betreibt, den Armen der Gesellschaft aber auch wertvolle Tipps gibt. Nur über persönlich anrührende Geschichten können sie wenigstens zu etwas Geld kommen, denn ohne entsprechende Werbung und Vermarktung geht offensichtlich nichts mehr. Für seine tiefsinnige und dennoch leichtfüßige Komödie voller überraschender Wendungen hat der Regisseur verdientermaßen einen spontan geschaffenen Spezialpreis der Jury erhalten.
Hi, Tereska
Mein Bruder Seidenstraße
Soziale Realität als Drama
Die beiden künstlerisch interessantesten Filme des Spielfilmwettbewerbs sind in echtem Schwarzweiß gedreht. Hi, Tereska (Preis für den Besten Film) des Polen Robert Glinski ist die eindringliche Sozialstudie einer schüchternen 15-Jährigen aus ärmlichen Verhältnissen, die durch eine falsche Freundin vollends ins Abseits gerät und zu einer spontanen Verzweiflungstat getrieben wird. Getragen wird der Film durch seine karge Bildsprache, die sich in vielen Großaufnahmen ganz auf seine rundum überzeugende Hauptdarstellerin konzentriert. Die "nichtfilmische" Realität hat den Film inzwischen eingeholt: Das Mädchen ist tatsächlich straffällig geworden und sitzt inzwischen im Gefängnis. – Der kirgisisch-kasachische philosophische Film Mein Bruder Seidenstraße von Marat Sarulu erzählt in zum Gemälde verfremdeten oder zur Grafik konzentrierten Bildern von drei Kindern, die durch die kirgisischen Wälder streifen und ihre Träume an eine Eisenbahnlinie heften, die auf der historischen Seidenstraße errichtet wurde. Doch das wahre Leben im Zug ist auch hier weniger von Träumen, als von Angst, Bedrohung und Verzweiflung geprägt. Ein aus dem Zug geworfener Künstler wird für das älteste Kind schließlich zum Start in eine bessere Zukunft: ein Hoffnungsschimmer.
Blumen der Okkupation
Abbilder und Rückblicke
Es gibt Festivals bzw. Jahrgänge, in denen die ausgewählten Dokumentarfilme interessanter sind, als die gesamte Spielfilmproduktion. Von den osteuropäischen Dokumentarfilmen lässt sich das dieses Jahr nicht behaupten. Der Preisträger des Dokumentarfilmwettbewerbs, der mazedonische Film Joy of Love von Svetozar Ristovski, zeigt die Transformationsprozesse in den Ländern Mittel- und Osteuropas an einem aus vielen Nationalitäten bunt zusammengewürfelten Orchester in Sarajevo, das nach dem Bürgerkrieg Beethovens titelgebende Sinfonie einstudiert. Die Idee der Musik als Bindeglied, als Mittler, aber auch als letzter verbliebener Zufluchtsort entwickelt sich hier zu einem Kurzporträt einiger Ensemblemitglieder und Impressionen aus ihrem jeweiligen Herkunftsland. Das ist solide gemacht, ohne Frage ehrenwert, aber emotional nur stellenweise packend und weitergehende Hintergrundinformationen, beispielsweise über das Orchester, fehlen. – Als Sondervorführung lief erstmals der russische Kompilationsfilm Blumen der Okkupation von Igor Grigorjev. Aufnahmen aus Wochenschauen der Nazis zu Propagandazwecken sind mit persönlichen Erinnerungen von Russen kontrastiert und mit einem Kommentar unterlegt, der in der gezeigten Kopie mit Untertiteln aber oft nur schwer lesbar war. Der entlarvende, aufklärerische Impetus scheint stellenweise durch. Aber der Film montiert sehr viel Material in relativ kurzen Schnitten und setzt dabei so viel Hintergrundwissen voraus, dass die eigentliche Intention nicht zufriedenstellend umgesetzt wird.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006