Berlinale 2005 – 2. Jugendfilmwettbewerb "14plus"
Innocent Voices (Foto: Berlinale)
In seiner zweiten Auflage verspricht der 2004 ins Leben gerufene Jugendfilmwettbewerb "14plus" eine der besonders interessanten Festivalschienen der Berlinale zu werden. Was früher zum Teil aus dem Festivalraster gefallen sein mag oder unsystematisch in anderen Programmsparten auftauchte, hat nun seinen festen Platz gefunden. Das jüngere Publikum geht ohnehin gerne ins Kino und Coming-of-Age-Themen der unterschiedlichsten Art sind gegenwärtig besonders beliebt und auch dramaturgisch ergiebig: Sie erlauben einen stark emotionalen und zugleich distanzierten Blick auf die Realität und ermöglichen ungewohnte Perspektiven. So wie es die Jugend im Alltag den Erwachsenen verübelt, wenn sie nicht ernst genommen wird, gilt das auch für "14plus", zumal das diesjährige Wettbewerbsprogramm überwiegend "harte Kost" bietet. Wie ein roter Faden zieht sich durch die neun Filme das Thema Gewalt, mit dem jungen Menschen in ihrem privaten und familiären Umfeld, aber auch im gesellschaftlichen Bereich, insbesondere im Krieg, häufig konfrontiert werden.
Turtles Can Fly (Foto: Berlinale)
Saimir (Foto: Berlinale)
Bilder des Krieges
Eröffnet wurde die Reihe mit dem mexikanischen Beitrag
Innocent Voices von Luis Mandoki über den Bürgerkrieg in El Salvador in den frühen 1980er-Jahren. Mit den dramaturgischen Mitteln des Hollywoodkinos und einer brisanten Mischung aus Action, Angst und Abenteuer erzählt der Film, wie der Bürgerkrieg zwischen den vom US-Militär unterstützten Regierungstruppen und den Revolutionsgruppen mit breiter Unterstützung der Bevölkerung vor allem die Frauen und Kinder zu Opfern macht. Mit teilweise brachialer Gewalt rekrutiert das Militärregime Jungen ab zwölf Jahren als Kindersoldaten. Die Bedrohung der Zivilbevölkerung zwischen den Fronten etwa durch plötzlichen nächtlichen Beschuss, das tägliche Sterben ringsum sowie die permanente Angst der Kinder, vom Militär entdeckt und verschleppt zu werden, sind aus der Perspektive eines knapp zwölfjährigen Jungen erzählt. Der Hauptdarsteller Carlos Padilla mit seinen leuchtenden Augen und strahlendweißen Zähnen dürfte ein idealer Sympathieträger sein und die Herzen der Zuschauenden unweigerlich im Sturm erobern. Über die historischen und politischen Hintergründe dieses Krieges erfährt man zwar nur wenig, umso mehr dafür über die Perversion des Krieges an sich und den Mut der Kinder, sich in Extremsituationen zu behaupten. – Weitaus pessimistischer sieht das der kurdische Regisseur Bahman Ghobadi in der international bereits vielfach mit Preisen ausgezeichneten iranisch-irakischen Produktion
Turtles Can Fly/Schildkröten können fliegen , der aus der Sicht von Jugendlichen die Situation in einem kurdisch-irakischen Grenzdorf kurz vor dem Einmarsch der US-Truppen und dem Sturz Saddam Husseins schildert. Künstlerisch und thematisch ohne Zweifel der herausragende Film der Reihe, ist er freilich auch in punkto Kompromisslosigkeit, Härte und Ausweglosigkeit kaum zu überbieten. In dokumentarischer Schärfe und zugleich sehr poetischer Bildsprache, inmitten unberührt wirkender Natur und den endlosen Schrotthalden mit ausgedientem oder zerstörtem Kriegsmaterial berichtet Ghobadi von den körperlichen und vor allem seelischen Qualen und Wunden, die der jahrelange Krieg gegen die Kurden insbesondere bei der jungen Generation als Symbol für eine bessere Zukunft hinterlassen hat. Mit bloßen Händen räumen Kinder und Jugendliche ganze Minenfelder, um die ausgebuddelten Minen später auf dem Markt und auch an das US-Militär zu verkaufen um damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Viele von ihnen sind bereits verstümmelt, auch die Hauptfigur namens Satellit, den gewieften Anführer der Jugendlichen, wird es einmal erwischen. Dieser Film wird zur Anklage gegen den Krieg allgemein und gegen alle, die direkt oder indirekt daran teilnehmen, beispielsweise, indem sie Landminen produzieren. Und während in der Abgeschiedenheit des Bergdorfes über Parabolantenne unvermittelt bisher verbotene Bilder aus der weiten Welt über den Bildschirm flimmern, werden ein kurdisches Mädchen, in das sich der Junge Satellit verliebt hat, und ihr armloser, hellseherisch begabter Bruder ihre eigenen Horrorbilder der Vergangenheit nicht mehr los: Bei einem Überfall durch irakische Soldaten wurden ihre Eltern getötet und sie selbst vergewaltigt. Schildkröten, und damit sind im metaphorisch mehrdeutigen Film wohl auch die Jugendlichen gemeint, können nicht fliegen und versuchen sie es doch, bezahlen sie mit ihrem Leben.
The Mighty Celt (Foto: Berlinale)
Popular Music (Foto: Berlinale)
Vater-Sohn-Konflikte
Zumindest die mittelbaren Folgen von Kriegen sind auch in Europa gegenwärtig. Wie sehr sie die Lebensgestaltung mancher Jugendlichen beeinflussen, davon erzählen zwei weitere Filme anhand von klassischen Vater-Sohn-Konflikten. Saimir im gleichnamigen Film von Francesco Munzi ist vor einigen Jahren mit seinem Vater von Albanien nach Italien geflohen. Nun muss er ihm wiederwillig bei der Arbeit als Schleuser helfen; die Flüchtlinge werden als billige Arbeitskräfte an Bauern aus der Umgebung vermietet. Als Saimir sich in eine junge Italienerin verliebt und Geld benötigt, wird er selbst zum Dieb und Hehler. Erst als sich der Vater mit der Russenmafia einlässt und am Menschenhandel mit einer Minderjährigen aus Osteuropa beteiligt, bricht der lange schwelende Konflikt zwischen Vater und Sohn offen aus und Saimir trifft eine schwere und auch für ihn folgenreiche Entscheidung. In lakonischem Stil und mit der Bildsprache des italienischen Neorealismus, an Orten, die selbst die Polizei nicht freiwillig betreten würde, erzählt Munzi von der Perspektivlosigkeit der Illegalen in seinem Land, aber auch von der Zivilcourage eines Jungen, der in diesem Milieu versucht, seine Würde und seine Werte zu bewahren. Die britisch-irische Koproduktion The Mighty Celt von Pearse Elliott setzt ebenfalls Signale der Hoffnung auf eine nachwachsende Generation, hier vor dem Hintergrund des Nordirlandkonflikts in Belfast und der Leidenschaft vieler Iren für Wettrennen mit Windhunden. In seiner Freizeit hilft der 14-jährige Donal einem ortsansässigen Hundezüchter bei der Arbeit und luchst ihm das Versprechen ab, einen der Windhunde für sich behalten zu dürfen, falls dieser drei Wettrennen hintereinander gewinnen sollte. Für den bei seiner allein erziehenden Mutter lebenden Donal ist der Züchter trotz seiner ruppigen Art zu einer Art Ersatzvater geworden und so hält der Junge auch dicht, als er in dessen Scheune ein geheimes Waffenlager der IRA entdeckt. Da taucht ein früherer Freund der Mutter auf, der Donals leiblicher Vater sein könnte und offenbar ebenfalls einmal für die IRA gekämpft hat. Inzwischen hat er nicht nur der Gewalt, sondern auch dem Alkohol abgeschworen und er warnt Donal eindringlich vor dem zwielichtigen und brutalen Züchter. Über leidvolle Erfahrungen, muss der Junge selbst herausfinden, wem der beiden um ihn konkurrierenden Männer er mehr trauen darf. Hochkarätig mit Gillian Anderson als Mutter und Robert Carlyle als ihrem Freund besetzt, nutzt der Film das Potenzial seiner Geschichte allerdings nicht voll aus, ist eher eine ambitionierte Fernsehproduktion als ein Kinofilm.
Falling Beauty (Foto: Berlinale)
Fourteen Sucks (Foto: Berlinale)
Coming-of-Age in Schweden
Gleich drei sehr unterschiedliche Beiträge aus Schweden zeugen von der ungebrochenen Spitzenstellung des Landes in Europa im Kinder- und Jugendfilmbereich. Die Verfilmung des schwedischen Entwicklungsromans Popular Music von Mikale Niemi durch den iranischstämmigen Regisseur Reza Bagher wirft einen Blick zurück auf die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in eine Zeit, als der Rock'n Roll mit Verspätung auch eine kleine Dorfgemeinschaft in der Ödnis an der Grenze zu Finnland erreicht. Dort prägt er den weiteren Lebensweg zweier Freunde und wird ihnen zum Hoffnungsschimmer, irgendwann einmal den ständigen Familienbesäufnissen und sexuellen Obsessionen der Verwandten des einen und der täglichen Tracht Prügel des anderen durch einen gewalttätigen Vater zu entkommen. Der zwischen Drama und Komödie angesiedelte Film zieht alle Register der beiden Genres, bezaubert mal durch mitreißende Persiflagen und humorvolle Musikeinlagen, verstört dann wieder durch die hemmungslose Egozentrik der Erwachsenen, ist mit seinem teils derben Humor und seiner drastischen Bildsprache sicher nicht jedermanns Geschmack. Ganz nebenbei vermittelt er in der Rahmenhandlung so überlebenswichtige Dinge, etwa wie man sich ohne fremde Hilfe wieder befreien kann, wenn einem versehentlich die Zunge im Eis angefroren ist. Grobe Verfehlungen der Elterngeneration führen auch in Falling Beauty von Lena Hanno Clyne zu einem Entwicklungsschub bei der Jugend. Anhand des bekannten Topos eines Fremden, der in eine in sich geschlossene Gemeinschaft kommt und dort alles aufmischt, findet eine 16-Jährige in der Begegnung mit einem zehn Jahre älteren Kolumbianer zu sich selbst. Sie lernt nicht nur, sich gegenüber dem anderen Geschlecht zu öffnen und ihre Umwelt bewusster wahrzunehmen, sondern auch, Verantwortung für ihre Familie zu übernehmen, nachdem die Eltern aus drückenden Geldsorgen heraus mehrmals eine Bank überfallen haben. Auf diese abstruse Idee sind die bisher unbescholtenen Erwachsenen durch den Kolumbianer gekommen, dem es nicht um das Geld ging, sondern darum, andere Menschen "glücklich" zu machen. Politisch alles andere als korrekt und in der Handlungskonstellation etwas überzogen, besticht der Film dennoch durch seinen schrägen Humor und die überragende Hauptdarstellerin. Ihr gelingt es, die Wandlung von der naiven Pubertierenden zur jungen Frau überzeugend zu vermitteln. Noch besser allerdings ist es dem jungen Regiekollektiv um Filippa Freijd, Martin Jern, Henrik Norrthon und Emil Larsson in dem für die Jugendreihe geradezu programmatisch stehenden Fourteen Sucks gelungen, authentisch etwas vom Lebensgefühl dieser Altersstufe im heutigen Nordeuropa zu vermitteln. Dafür sieht man über kleine dramaturgische Schwächen und etwas zu klischeehaft geratene Elternfiguren gerne hinweg. Auf einer Party mit den Freunden ihres älteren Bruders wird eine 14-Jährige aus gutbürgerlichem Elternhaus nach exzessivem Alkoholkonsum vergewaltigt. Obwohl vermutlich alle Bescheid über die wahren Hintergründe wissen, wird das Mädchen als Hure gebrandmarkt und in weiteren Saufgelagen eine Mauer des Schweigens über die Angelegenheit gebreitet. Erst durch einen aufrichtigen neuen Freund und die Unterstützung ihres zur Besinnung gekommenen Bruders findet die junge Frau zurück in die Welt und ist bereit, nicht mehr sich, sondern den Schuldigen zu bestrafen. Das ist endlich einmal ein Film auch zur Suchtproblematik, der etwas mit dem Alltagsleben der Jugendlichen zu tun hat.
My Summer of Love (Foto: Berlinale)
Liebe und Gewalt
Wie nahe Liebe und Gewalt liegen können, wissen ältere Berlinale-Gäste spätestens seit Nagisa Oshimas Klassiker "Im Reich der Sinne", der seinerzeit im Hauptwettbewerb für Furore sorgte. Vergleichsweise harmlos und trotzdem tragikomisch genug stellt sich diese Mischung in
Hana & Alice von Shuji Iwai aus Japan dar. Die dicke Freundschaft der beiden titelgebenden Ballettratten wird auf eine harte Probe gestellt, als Hana sich in einen verträumten Mitschüler verliebt und diesem nach einem Unfall, bei dem er sich den Kopf verletzt, vergaukelt, er habe wohl sein Gedächtnis verloren und sie sei seine Freundin. Während der Schüler mit Hana jedoch nichts anfangen kann und an seinem Realitätssinn zu zweifeln beginnt, verliebt er sich unsterblich in Alice. In ruhiger Erzählweise, den westlichen Sehgewohnheiten zuwiderlaufend oft aus der Distanz aufgenommen, so als sollten die fragilen Figuren möglichst nicht gestört werden, fängt die Kamera diese ungewöhnliche Dreiecksgeschichte ein. Wäre der Film mit gut zwei Stunden nicht entschieden zu lang, etwas schleppend am Anfang und zu penetrant mit klassischer Streichmusik unterlegt, er hätte ein japanisches Meisterwerk werden können. Herrschenden Sehgewohnheiten und filmischen Erwartungshaltungen zuwider läuft auch
My Summer of Love von Pawel Pawlikowski aus Großbritannien. Die reiche, Cello spielende Bürgerstochter Tamrin und die malerisch begabte Streunerin Mona, die bisher von den Männern nur als Sexualobjekt ausgenutzt und mitunter auch von ihrem Bruder geschlagen wurde, fühlen sich magisch voneinander angezogen und schwelgen bald im Gleichklang ihrer künstlerisch ambitionierten Seelen. Was Mona zunächst Halt und Orientierung in ihrem bisher chaotischen Leben gibt und ihren Bruder, der sein Heil in strenger Religiosität sucht, in Rage versetzt, endet beinahe in der Katastrophe für alle, als die beiden Geschwister entdecken, dass Liebe und Lüge, Vertrauen und Betrug oft dicht beieinander liegen. Noch vor wenigen Jahren wäre dieser Beitrag vermutlich im Panorama der Berlinale gelaufen. Seine jetzige Platzierung in "14plus" ist ein weiteres Indiz dafür, dass die neue Reihe ein klares Profil hat, das die jeweils interessantesten Filme zum Thema Jugend verspricht und ein nicht nur jugendliches Publikum anzusprechen vermag.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006