Winfried, ein Alt-68er mit schrägem Humor, ist Musiklehrer am Übergang zum Ruhestand. Er lebt alleine mit seinem alten Hund in einem Einfamilienhaus. Seine Tochter Ines ist als junge und erfolgreiche Unternehmensberaterin in Bukarest, bald vielleicht in Shanghai, unterwegs. Vater und Tochter sehen sich selten. Sie haben sich mit der Zeit und dem Erwachsenwerden auseinander gelebt. Und so scheitert auch Winfrieds Versuch, Ines mit einem Besuch in Bukarest zu überraschen und die Vater-Kind-Beziehung aufzufrischen, kläglich. Sozialromantische Lebensvorstellungen und eine gute Portion Humor treffen auf einen durch und durch leistungsorientierten Business-Alltag im ernsten Hosenanzugs-Stil. Winfried bleibt schließlich nur noch die Komik, um Authentizität und Wahrhaftigkeit herauszukitzeln: Also schiebt er sich kurzerhand ein Gebiss in den Mund, schlüpft in einen Anzug und sorgt als Business-Coach Toni Erdmann am Rande von Ines Meetings und Empfängen mächtig für Wirbel. Die Karrierefrau gerät ins Wanken. Doch dann nimmt Ines die irrwitzige Herausforderung an und begegnet ihrem Vater und sich selbst neu.
Mit
Toni Erdmann präsentiert Maren Ade nicht nur eine äußerst kurzweilige Komödie, sondern auch eine herausragende Regie-Arbeit, mit der sie auf dem Filmfestival in Cannes das Publikum begeisterte. Das Besondere des Films ist das bis ins letzte Detail ausgewogene Arrangement von Komik und Traurigkeit, von stilistischer Stringenz und scherzhafter Offenheit. Getragen von dialogischer Leichtigkeit und zwei großartigen Hauptdarstellern, die sich unentwegt zwischen statischem Ernst und ins Absurde getriebenem Humor bewegen, entlarvt eine Szene um die andere Strukturen, Verhaltensmuster, Wesenszüge und Beziehungen. Die durch Scherzhaftigkeit hervorgerufenen Selbsterkenntnisprozesse der Hauptfiguren führen dabei in eine Reihe von Abschieden und Neuanfängen: Abschiede von Menschen, von Persönlichkeitsphasen und schlussendlich auch der Abschied von einem Spiel, machen den Weg frei für eine authentische Beziehung zu sich selbst und dem Anderen.
Unter dem Deckmantel der Komödie spannt der Film zwei ernste Themenfelder auf: Da ist zunächst das Konstrukt Familie, die Beziehung zwischen Vater und Tochter, die den Kern der Handlung bestimmen. Prozesse des lebenslangen Erwachsenwerden werden dargestellt, Beziehungen und Rollenbilder aufgegriffen und in Frage gestellt. Dem Familien- und Privatleben gegenüber steht die Arbeits- und Berufswelt. Anhand der Figur der jungen Unternehmensberaterin Ines wirft der Film Fragen nach dem Wert und der Form von Arbeit, nach Ehrgeiz und Ansprüchen auf. Vor dem Hintergrund einer modernen, kapitalistischen Gesellschaft, in der sich Menschen über Leistung definieren und Gleichberechtigung eine Utopie bleibt, wirft der Film zudem einen Blick auf das Frauenbild in einer männerdominierten Berufswelt. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Welten stellt letztlich existentielle Lebensfragen: Was bedeutet es, zu leben? Welche Träume und Ideale haben wir? Und was ist eigentlich Glück?
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Lisa Haußmann, 01.07.2016, Vision Kino 2016.
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