Langhaarige, grazile Mädchen mit großen Augen halten sich an den Händen und weinen. Junge Männer mit gesenktem Blick treten von einem Fuß auf den anderen. Sie haben sich um ein offenes Grab versammelt, in das sie nacheinander etwas hinein werfen: eine Blume, einen Stein, ein Foto. Einer schlägt ein paar Akkorde auf der Gitarre an und beginnt zu singen. Die anderen fallen ein, während sie sich langsam zerstreuen und über den dick verschneiten Friedhof stapfen ... Eine Szene aus Arthur Penns Film
Alice's Restaurant von 1969, die, denkt man sich einen thailändischen Strand statt eines neuenglischen Dorffriedhofs, auch eine der entscheidenden Szenen in
The Beach ist. Hier wie dort betrauert eine Hippie-Kommune den Tod eines ihrer Mitglieder, das auf der Suche nach dem Paradies einen allzu frühen Tod starb: bei Arthur Penn durch Heroin, bei Danny Boyle durch die Bisse eines Hais. Die Todesarten demonstrieren augenfällig, was die heutigen Aussteiger von denen damals unterscheidet: Vor dreißig Jahren führte die Sinnsuche nach innen; Drogen sollten Türen öffnen zu den verborgenen Winkeln der Seele und des Geistes. Terra incognita war das eigene Ich.
The Beach spielt in den späten Neunzigern; die Welt ist klein geworden und gerade jetzt scheint es wieder reizvoll, weiße Flecken auf der Landkarte zu entdecken, unberührte Paradiese, in denen man – ähnlich wie damals – nie gekannte Sinneseindrücke auf sich wirken lassen und damit dem eigenen Ich ein Stück näher kommen kann. Richard, der von Leonardo DiCaprio verkörperte Held und Ich-Erzähler des Films, ist ein Computer-Kid, das dem Motto "sei offen für alles, was du nicht kennst" folgt und dabei auf den Adrenalin-Kick hofft. Der gefährliche und mühsame Weg zum titelgebenden Strand ist bereits ein Teil dieses Ziels. Aber als er dort ankommt, findet er lediglich eine leicht abgewandelte Form des Urlaubslebens vor, das er in den Touristenzentren Thailands so abstoßend fand. The Beach zeigt, dass eigentlich kein wesentlicher Unterschied zwischen den kiffenden, saufenden, amüsierwütigen Rucksackreisenden in Phuket und den Bewohnern des Strandes besteht. Denn auch sie sind wild zum Amüsement entschlossen unter Zuhilfenahme ähnlicher Stimulantien. Club Robinson oder Ballermann 6 – die Differenzen sind gradueller, nicht prinzipieller Natur.
Allerdings scheinen die quasi archaischen Lebensformen und die Rituale, die in der Strandkommune zelebriert werden, für Richard zunächst sinnstiftend zu sein. Um überleben zu können, sind Fertigkeiten zu erlernen, die in der hochzivilisierten westlichen Welt keine Rolle mehr spielen: Fischen, Bauen, Ernten. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgt Sal, eine von Tilda Swinton gespielte, starke Mutterfigur, die mit allen Mitteln und schließlich sogar mit einem Mordversuch die von ihr selbst erklärten Ideale verteidigt, selbst dann noch, als sie sich als Illusion entpuppen und sich die Konflikte in der Gemeinschaft nicht mehr verdrängen oder lösen lassen. Bereits in
Alice's Restaurant entflohen die Jugendlichen ihren spießigen, damals dem Geist der Eisenhower-Ära verhafteten Eltern, nur um sich erneut in ähnliche – freilich groß-familiäre – Strukturen zu begeben. Heute entfliehen sie nicht mehr der patriarchalen Kleinfamilie, sondern überbeschäftigten, karriereorientierten, allein erziehenden Elternteilen, aber wieder auf der Suche nach Geborgenheit und Bestätigung durch eine Mutterfigur.
Der Hai ist nur der Auslöser, nicht der Grund für den Verlust des Paradieses. Richard, der sich von der Gemeinschaft absondert und umgekehrt von dieser als Sündenbock abgestempelt wird, hat längst erkannt, dass am Strand die gleichen Gesetze herrschen wie in der Welt. Hier wie dort existieren Machtstrukturen, ökonomische Zwänge, Egoismus, Missgunst und die Ausgrenzung unbequemer anders Denkender. So schafft er sich kurzfristig sein eigenes Universum, indem er sich in die Figur eines Videospiels verwandelt – einer der wenigen ästhetischen Lichtblicke des Films. Und er erkennt: Nicht nur die wahren Abenteuer, auch das wahre Paradies sind im Kopf und haben mit der inneren und äußeren Realität des Menschen oft nur wenig gemeinsam. Das Hauptmotiv von
The Beach ist Leonardo DiCaprios wasserbeperlter, halbnackter Körper, dessen ständige Präsenz vielleicht am ehesten symbolisiert, was Richard fehlt: Vielschichtigkeit. Der jugendliche Held der neunziger Jahre ist und bleibt nicht mehr als seine Oberfläche. Schade nur, dass der Jugendkult-Regisseur der Neunziger in Anbetracht dieses Defizits auch noch die Bilder früherer Kult-Kollegen stehlen musste.
Autor/in: Daniela Sannwald, 01.02.2000