Hintergrund
Pubertät
An Weihnachten fing es auf einmal an. Da stand der Tannenbaum, die Kerzen, und die Geschenke waren eigentlich auch okay. Aber sie kam nicht, die Begeisterung. Dieses jauchzende, überschwängliche Gefühl, die Seligkeit nach langem Warten – so heftig erlebt in all den anderen Jahren – diesmal blieb es einfach weg. Ratlos und hölzern stand ich unter dem Lametta, beobachtete verständnislos den Jubel meiner kleinen Schwester, blätterte lustlos in den neuen Büchern und wartete drei Tage lang, ob das verlorene Glücksgefühl von Weihnachten nicht doch noch eintreffen würde. Ich war dreizehn. Ab da stimmte dann irgendwie gar nichts mehr. Die Spiele mit meiner Schwester – Kniffle, Scrabble, Monopoly – machten keinen Spaß und ich ging auch nicht mehr mit auf den Eisweiher. Stattdessen lag ich lange auf meinem Zimmer, futterte Süßigkeiten, hörte melancholische Songs und spürte meinen schmerzlichen Gefühlen nach. Meistens störten mich dann meine Eltern, wenn sie ins Zimmer kamen, die Fenster aufsperrten und mich aufscheuchten: "Was hängst du hier eigentlich schon wieder rum. Hast du nichts Besseres zu tun?" Sie hatten ja keine Ahnung. Sie nicht, meine Schwester nicht, und die Lehrer schon gar nicht. Sie lebten ja alle in dieser verkorksten Welt, als wenn das selbstverständlich wäre. Mir war nichts mehr selbstverständlich. Nicht die Art, wie sie alle ihren Geschäften nachgingen, ohne zu fragen, warum. Nicht die Weise wie die Lehrer redeten, die Wissenschaft und die Demokratie lobten, die sie doch selbst nicht ernst nahmen. Nicht die Religion, in der ich so unbedarft aufgewachsen war, mit ihren vorgegebenen Glaubenssätzen. Ich fühlte mich wie die Eva aus dem Paradies, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Die einzige, die mich verstand, war Anne, die jeden Tag mit ihrem blauen Mofa zu mir nach Hause kam. Dann setzte ich mich hinten auf ihren Gepäckträger und wir fuhren zusammen zum Wäldchen, rauchten heimlich Zigaretten, lasen Bravo und träumten von einem anderen Leben. Anne, die ein Jahr älter war und einen großen Bruder hatte, erklärte mir vieles, was man im Leben wissen muss: Welche Scheiben in den Charts waren, wie ein Zungenkuss funktioniert und was man heute anzieht, wenn man ernst genommen werden will: Jeans natürlich, die Jeans von der einen Marke. Das war eigentlich eher eine Weltanschauung als eine Hose. Und erst, wenn wir da drinsteckten, waren wir wirklich vollständig. Irgendwann gab Mama mir einen dieser störrischen kneifenden Büstenhalter. "Mein kleiner Backfisch", sagte sie zärtlich, und ich hasste sie dafür. Aber die größte Plage dieser Tage waren diese elenden Pickel, die sich trotz aller Salben, Seifen und Diäten nicht vertreiben ließen und die immer dann am buntesten blühten, wenn wir Alexander begegnen wollten. Wir kannten Alexander nur von weitem. Er war schon 17 und machte eine Lehre bei der Kreissparkasse. Anne und ich wussten genau, mit welchem Bus er jeden Tag nach Hause kam. Deshalb hielten wir uns immer um 17.12 Uhr mit dem blauen Mofa an der Haltestelle auf. Kaum, dass Alexander aus dem Bus gestiegen war, fuhren wir mit einem Affentempo an ihm vorbei. Es war super. Bis zu dem Tag, als wir beide mit Karacho vor Alexanders Augen in einer großen Pfütze landeten. Die Scham vergesse ich nie. Vielleicht war es das schwerste Jahr, das ich jemals mitmachen musste. Und dann war wieder Weihnachten. Auch diesmal kam das alte Glück nicht mehr zurück. Aber das machte jetzt nicht mehr so viel. Ich hatte ja schließlich Erfahrung.
Autor/in: Eva Baumann-Lerch, 21.09.2006