Das Interview führte Margret Köhler.
Wie würden Sie Ihren Film definieren?
Als Jugenddrama, erste große Liebe, Straßenkinderfilm, der unterhalten will.
Gibt es diese bedingungslose Liebe in dem Alter der 15- bis 17-Jährigen?
Auf jeden Fall, wenn nicht in diesem Alter, wann dann? Je mehr Erfahrungen man sammelt, um so vorsichtiger wird man doch. Bei der ersten Liebe denkt man, das dauert ewig, es kann nur der oder die eine sein. Jugendliche verfügen über Risikobereitschaft und Wagemut in der Liebe.
Auch in diesem Straßenmilieu?
Gerade da. Wenn man kein Zuhause hat, will man zu jemandem gehören und verstanden werden. Man will sich freikämpfen und verrückte Sachen machen. Verliert man in diesen Momenten den Rückhalt, ist es besonders schlimm. Wenn man in dieser Ausnahmesituation glaubt, einem Menschen zu vertrauen, sich auf ihn einzulassen und dann geht alles schief, ist die Katastrophe nicht mehr weit.
Inwieweit wurde improvisiert, die Vorstellungen der jugendlichen Darsteller mit einbezogen?
Es ist ein großer Irrtum zu glauben, das ganze Team rede mit, wenn improvisiert wird. Wir haben viel mit der Clique improvisiert, wenn sie alle zusammen spielten. Es gab relativ wenig Dialoge im Drehbuch. Mit Robert Stadlober und Jana Pallaske haben wir sehr viel in der Probenarbeit improvisiert, um uns den Figuren und den Szenen zu nähern, aber dabei am Text erstaunlicherweise wenig geändert.
Wie haben Sie versucht, Authentizität zu erzeugen und wie haben Sie recherchiert?
Ich habe mehrere Tage an den Domtreppen in Köln bei den Kids verbracht und ihnen ganz ehrlich gesagt, dass ich einen Film mache und einfach viel gefragt und sehr viel beobachtet. Wenn ich recherchiere, mache ich mir natürlich meine Meinung von dem, was ich sehe. Zusätzlich hatte ich Kontakt mit Sozialarbeitern, um weitere Aspekte zu berücksichtigen. Natürlich kann ich immer nur einen Teil der Realität zeigen, einen Ausschnitt. Es existieren ganz unterschiedliche Szene-Cliquen am Dom. Manche Kids kommen nur nachmittags nach der Schule oder in den Sommerferien, manche kiffen nur, manche nehmen harte Drogen.
Würden Sie sich ärgern wenn man Ihren Film als Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo des 21. Jahrhunderts bezeichnete?
Ich würde mich total ärgern. Man kann den Film auch mit Filmen wie
Kids oder
Wie Feuer und Flamme vergleichen. Er hat mit
Christiane F. nicht mehr Ähnlichkeit als andere, die auch von Jugendlichen und Drogen handeln. Ich erzähle eine davon abweichende Geschichte und die Hauptfiguren haben nicht viel gemeinsam.
Sie greifen zahlreiche Probleme auf: Drogen, ungewollte Schwangerschaft, zerrüttetes Elternhaus, große Liebe, erste Enttäuschung. Das reicht für mehrere Filme ...
Ich habe es nicht so gesehen, für mich stand die Beziehung zwischen den beiden Jugendlichen im Mittelpunkt, der Rest kam hinzu. Die großen Handlungsstränge waren auch schon in der Stern-Reportage von Kai Hermann, die wir natürlich nicht 1:1 umsetzen konnten.
Haben Jugendliche in der von Ihnen dargestellten Situation realistisch betrachtet noch eine Chance?
Die Chance besteht, solange keine harten Drogen im Spiel sind. Denn dann verlieren Jugendliche ihre Träume, ein schwieriger Moment. Ich habe einen Jungen kennen gelernt, der wieder zur Schule ging, vom Sozialamt eine Wohnung erhielt und an die Zukunft glaubte. Man darf solche Jugendliche nicht abschreiben. Auch der Figur von Joe im Film gebe ich eine Chance, weil sie kämpft und sich nicht unterkriegen lässt. I
m Gegensatz zum Mädchen wirkt der Junge ziemlich hilflos.
Sagen wir mal, nicht sehr konsequent im Verfolgen seiner Ziele, ein Junge der wenig Vertrauen in sich hat und auch anderen nicht traut. Er ist in einem schwierigen Alter, in dem die meisten nicht gerade vor Selbstbewusstsein strotzen.
Wieso zeichnen Sie Engel als Punk?
Das steht für eine Geisteshaltung, für den Ausbruch, die Anarchie, der Vorstellung, sich nicht Zwängen unterzuordnen. Es gibt viele Jugendliche auf der Straße, die so denken. Es fehlen vielleicht die politischen Aktionen wie in den 80er Jahren. Aber sie revoltieren immer noch gegen die gesellschaftlichen Normen, wenn auch mehr mit Sprüchen. Für mich ist
engel +joe mehr ein Straßenkinderfilm als ein Punkfilm.
Das Ende wirkt wie eine Fantasie von der heilen Welt ...
Ich sehe es als offenes Ende, das noch einen Funken Hoffnung vermittelt. Das Ende soll zum Nachdenken anregen, ob man es nun als Fantasie oder eine wirkliche Zukunftschance interpretiert. Der Zuschauer kann im Kopf die Geschichte weiterspinnen.
Autor Kai Hermann (Foto: Holger Twele)
Das Buch zum Film:
Kai Hermann: engel + joe. Nach einer wahren Geschichte. Ullstein Verlag, München 2001