36. Internationale Hofer Filmtage 2002
Halbe Miete
Schon immer waren die Hofer Filmtage ein wichtiger Seismograph für die jeweilige Situation des deutschen Films. Dort liefen zwar fast nie die kommerziell erfolgreichsten Filme ihres Jahrganges, dafür gab Festivalleiter Heinz Badewitz dem Nachwuchs immer wieder eine Chance, hatte ein sicheres Gespür für neue Entwicklungen. Derzeit scheint es dem deutschen Film offensichtlich gar nicht so schlecht zu gehen und zum Glück wird längst wieder mehr gewagt, als in manch anderen Jahren, in denen man sich viele Regisseure auf vermeintlich sicheres Terrain, etwa des Genrefilms, zurückgezogen hatten.
Führer-Ex
Radikal digital
Beispielhaft für den neuen Optimismus stehen zwei Werke aus der Produktionswerkstatt von Wim Wenders innerhalb der inhaltlich wie technisch zukunftsweisenden neuen Reihe "Radikal digital" von Road Movies: Dem Eröffnungsfilm
Halbe Miete von Marc Ottiker und
Junimond von Hanno Hackford ist gemeinsam, dass sie beide in der neuen Digitaltechnik gedreht wurden und vereinsamte Individuen in der Großstadt Köln in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellen. Bei Ottiker findet ein menschlich gescheiterter Computerhacker zurück zu echten Beziehungen, indem er sich über Wochen hinweg mehr oder weniger heimlich Zutritt in die Wohnungen verschiedener Personen verschafft, die mit ihrem Single-Dasein nicht besonders glücklich scheinen. Auch wenn seine emotionale Kehrtwende etwas konstruiert wirkt, lässt Otikers Film schon eine vielversprechende persönliche Handschrift erkennen, die gespannt auf weitere Filme von ihm macht. "Radikaler" noch präsentierte Hackford seine extrem ruhig und melancholisch erzählte Liebesgeschichte eines Pärchens, die nicht einmal der Liebe mehr trauen können, durch den bevorstehenden Tod des Mannes aber an innerer Reife gewinnen. Trotz beeindruckender Szenen, die wie selten im deutschen Film ein Stück echte Intimität vermitteln, strapaziert Hackford die Geduld der Zuschauer allerdings mit einem eigenwilligen Soundtrack und seine Bemühungen, Bekanntes einmal anders zu präsentieren, enden dann doch wieder in einem Klischee.
Zur Lage
Privates und Politisches
Wie sehr private Probleme und persönliche Schwierigkeiten mit Gesellschaftlich-Politischem verknüpft sein können, verdeutlichen zwei weitere Filme aus Deutschland und Österreich. Winfried Bonegel erzählt in seinem vom Titel her leicht irreführenden, zumindest mehrdeutigen neuen Werk
Führer-Ex die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen in der ehemaligen DDR. Zunächst aus Übermut, dann konkret wegen eines gescheiterten Fluchtversuchs über die Grenze kommen die beiden Freunde ins Gefängnis und sehen sich dort mit Schwerverbrechern und Psychopathen, mit Vergewaltigung und Erpressung konfrontiert. Während der eine Zuflucht bei rechtsradikalen Häftlingen sucht, glaubt der andere, sich selbst helfen zu können und scheitert kläglich. Bonegels Psychogramm zweier Jungen, die an den vom politischen System aufgezwungenen Regeln zu zerbrechen drohen, kann den Hang von Jugendlichen zum Rechtsradikalismus nicht hinreichend erklären und will es vermutlich auch gar nicht. Umso eindringlicher schildert er mögliche Konsequenzen einer verletzten Seele und einer zerstörten Individualität.
Sein und Haben/Etre et avoir
Zur Lage in Österreich
Barbara Albert, Ulrich Seidl, Michael Sturminger und Michael Glawogger versuchen in ihrem aufschlussreichen Dokumentarfilm Zur Lage ein Stimmungsbild ihres Heimatlandes nach der politischen Wende in Österreich zu geben und sie haben dafür zahlreiche Personen interviewt. Manchmal nur zwischen den Zeilen, mitunter ganz direkt, mal im Einzelportrait oder im Stammtischgerede geben sie Auskunft über ihr familiäres und politisches Wertesystem, ihre Einstellung zu Ausländern und zu Haiders Programm inbegriffen. Während Barbara Albert bei ihren Frauenportraits und damit verknüpften Rollenbildern vor allem den persönlichen Bezug suchte, bereiste Glawogger für seinen Beitrag die gesamte Republik als Autostopper und interviewte die Personen, die bereit waren ihn mitzunehmen. Viele von ihnen stellten einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen ihren ganz persönlichen Erlebnissen und Konflikten mit Familie und Beruf und dem politischen Rechtsruck im Lande dar, was der Filmemacher nicht als eindeutig politische Gesinnung, sondern als "emotionale Sprachverwirrung" gewaltigen Ausmaßes konstatierte. – Ganz ohne öffentliche Fördermittel entstand Haider lebt, 1. April 2021 , eine bissige Satire des Schauspielers Peter Kern auf die Vorgänge in seinem Land und die gegenwärtigen Politakteure, mit einer in die Zukunft projizierten Handlung, in der Österreich von den Amerikanern besetzt und der Euro durch den Dollar ersetzt wird. Ganz unmittelbar politisch und in Österreich noch vor Kinostart von Haiders FPÖ verboten, mangelt es Kerns Film allerdings an dramaturgischer Stringenz. Auch wegen seines minimalen Budgets kommt der Film über provozierendes politisches Kabarett mit Dokumentarfilmtouch nicht hinaus.
Open Hearts
Glanzlichter des Dokumentarfilms
Zwei Filme, die nur scheinbar nichts miteinander zu tun haben:
Bowling for Columbine von Michael Moore und
Sein und Haben/Etre et avoir von Nicolas Philibert. Der bekannte amerikanische Dokumentarfilmer Michael Moore geht in seinem Film der Frage nach, wieso es vor wenigen Jahren zum Massaker von Columbine kommen konnte, bei dem Jugendliche in ihrer Schule mit selbst gekauften Waffen ein Blutbad anrichteten. Viele Amerikaner sahen damals in Gewaltvideos und dem Rocksänger Marilyn Manson die eigentlich Schuldigen. Moore führt solche Vorstellungen auch im Vergleich mit anderen Gewalttaten und anderen Ländern ad absurdum. Er sieht die wichtigsten Ursachen vielmehr in der freien Verfügbarkeit von Waffen in den USA, in einer systematischen Angst- und Panikmache der Medien, die eng mit der Geschichte des Landes verknüpft ist, und im Verhalten der Weltmacht USA, die bei ihren kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Ländern negatives Beispiel gibt. – Vor Aggressionen und Gewalt gefeit sind auch die Kinder einer kleinen Dorfschule (Vorschule und Grundschule) in der französischen Auvergne nicht, deren Alltag von Nicolas Philibert über mehrere Monate hinweg dokumentiert wird. Doch der einzige Lehrer übt seinen Beruf tatsächlich noch aus Passion aus, mit ruhiger und fester Stimme geht er ausführlich auf seine Schüler/-innen ein, versucht ihnen bei ihren Schwierigkeiten in der Schule wie im Elternhaus zu helfen, schlichtet Streitereien, wirbt um Einsicht und Toleranz, bereitet sie auf das Leben "draußen" so gut wie möglich vor. Im Vergleich zur Atmosphäre an der Schule von Columbine das andere Ende einer langen Fahnenstange und nebenbei ein plausibler Beleg dafür, warum Frankreich in der PISA-Studie wohl so viel besser abgeschnitten hat als etwa Deutschland. Vor allem jedoch ist es ein faszinierender Film, der nicht nur Pädagogen/-innen ansprechen dürfte.
Internationale Highlights
Atmosphärisch dicht, schauspielerisch eindrucksvoll und beklemmend intensiv geht es in dem neuen dänischen Dogma-Film
Open Hearts von Susan Bier um Schicksalsschläge des Lebens, die den gewohnten Alltag verändern und die involvierten Personen in ein Chaos der Gefühle stürzen können, dem sie nicht gewachsen sind. Eine junge Frau und ein junger Mann lieben sich und wollen heiraten. Ein Unfall zerstört ihre Pläne, der Mann überlebt querschnittsgelähmt vom Hals an. Der Mann der Unglücksfahrerin ist Arzt in der Klinik, in die der Schwerverletzte eingeliefert wird. Er verliebt sich in die Frau des Opfers und setzt damit seine Familie aufs Spiel. Am Ende ist nichts mehr, wie es war. Sicher einer der besten Filme des Festivals. – Seine breitenwirksame Entdeckung schon hinter sich hat
My Big Fat Greek Wedding von Joel Zwick. Die Low-Budget-Produktion über den Culture-Clash einer griechischen Großfamilie mit einer amerikanischen Kleinfamilie zwecks Heirat der sich liebenden Kinder hat in den USA bereits ein Millionenpublikum angesprochen und dort volle Kassen beschert. Zwicks liebenswerte und sehr unterhaltsame Komödie könnte man als gelungene Mischung des "Hässliches-Entchen-Themas" mit dem Stoff von
Monsoon Wedding oder
Jalla!Jalla! sehen, nur dass diesmal eine wohlhabende griechische Einwandererfamilie in den USA im Mittelpunkt steht, die zwischen der Bewahrung ihrer kulturellen Identität und der Anpassung an ihre Umwelt hin- und hergerissen ist und von allen Beteiligten reichlich Toleranz abverlangt.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006