Hintergrund
Moderne Erziehungsmodelle
Die Frage nach dem "guten" oder gar dem "besten" Unterricht und der "richtigen" Erziehung hat schon Generationen von Pädagog/innen beschäftigt und unzählige Schüler/innen zum Lernen und zu einem Leben in der Gemeinschaft animiert oder davon abgeschreckt – auch davon, soziale Verantwortung zu übernehmen. Eine wichtige Rolle bei der Beantwortung dieser Frage spielen unterschiedliche Auffassungen vom Lernen, eher didaktisch oder praxisorientiert zu vermittelnde Lerninhalte und die Form des Gesellschaftsbezugs.
"Bildhauer" und "Gärtner"
Lernpsychologische Vorstellungen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Fremd- bzw. Selbststeuerung des Lernens. Der Behaviorismus nimmt an, Verhaltensänderungen würden einzig durch äußere Reize wie Lob durch den Lehrer ausgelöst. Er empfiehlt den Lehrenden, Lernziele "von oben" aufzustellen und einzelne Lernschritte zu kontrollieren. Nach der modernen kognitiven Lernpsychologie setzt sich jede Person aber zielgerichtet, erkennend und handelnd, also aktiv mit der Wirklichkeit auseinander. Der Kognitivismus unterstützt eine eher zurückhaltende Lehrerrolle, die dem Schüler vertraut. Er vertritt die Position, dass den Schüler/innen das Lernen nicht abgenommen werden kann. Unterrichten heißt damit, Erfahrungsmöglichkeiten bereit zu stellen, in denen ein aktiver Aneignungsprozess provoziert, initiiert und erleichtert wird. Diese Dialektik des Schülerbildes lässt sich in zwei Metaphern vom Erzieher umsetzen: die des "Bildhauers" und die des "Gärtners". Trotz eines geänderten Selbstverständnisses durch den Kognitivismus in den 1980er Jahren sind aber immer noch 75 Prozent allen Unterrichts auf reine Wissensvermittlung und Frontalunterricht angelegt. Dieser überholte Ansatz unterliegt auch dem Irrtum, Gruppenmitglieder würden gleichmäßig lernen. Eine individuelle Didaktik erkennt dagegen die Heterogenität einer Klasse an. Vorkenntnisse, Lerntempo und -stil sind so unterschiedlich, dass persönliche Lernprozesse in Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit ermöglicht werden müssen.
Didaktische Modelle und praxisnaher Unterricht
Die "kritisch-konstruktive Didaktik" von Wolfgang Klafki ist der wichtigste Vertreter einer theoretisch fundierten und differenzierten "klassischen Didaktik" und bis heute populär. "Kritisch" bezeichnet hier die Befähigung von Schüler/innen zu wachsender Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. "Konstruktiv" weist auf den Praxisbezug des Konzepts hin, also auf sein Handlungsinteresse und Veränderungspotenzial. Die Mitplanung des Unterrichts durch die Schüler/innen und Schülerorientierung sind Grundsätze dieses Ansatzes. Inhaltlich stehen so genannte epochaltypische Schlüsselprobleme im Mittelpunkt, wie Friedensfragen, Umweltfragen, Entwicklungsländer oder gesellschaftliche und politische Ungleichheit. Die klassische Didaktik wird durch die kritisch-konstruktive Didaktik seit den 1980er Jahren durch eine zunehmende Alltagsorientierung ergänzt. Es entstanden Unterrichtskonzepte aus der Praxis heraus, die teils an die Reformpädagogik (1900-1933) anknüpfen. In den letzten Jahren beginnt sich der Projektunterricht gar als reguläre Form von Unterricht durchzusetzen. Im Projekt bearbeiten die Schüler/innen eine konkrete Aufgabenstellung mit Schwerpunkten bei der Selbstplanung und Mitverantwortung. Letzter Schritt eines Projektes ist, die erarbeitete Problemlösung an der Wirklichkeit zu überprüfen. Folglich haben Ergebnisse entweder Gebrauchswert (ein Radio funktioniert) oder Mitteilungswert (Ausstellung).
Die gesellschaftliche Rolle der Schule
Das von so genannten Schultheorien behandelte Verhältnis der Schule zur Gesamtgesellschaft bildet das Fundament für alle Lernprozesse in Klassenzimmern. Die "Struktur-funktionale Schultheorie" von Helmut Fend (1980) behauptet u. a., dass durch die unterschiedlich hohen Schulabschlüsse die Absolventen den jeweiligen Ebenen des Beschäftigungssystems zugeführt würden. Die Schule, so Fend, integriere den Nachwuchs in die gegebenen Normen und Werte einer Gesellschaft. Dies geschehe explizit im Geschichtsunterricht oder implizit durch stetes Gewöhnen an das Konkurrenzprinzip.
Erziehung als politische Aktivität
Die "Radikale Schulkritik" stuft schulische Wahrheiten als irrelevant ein, weil sie von gesellschaftlichen Problemen abgeschnitten seien, und fordert, Erziehung zu einer politischen Aktivität zu erklären. In diesem Sinne stellte der Brasilianer Paulo Freire ein Konzept von Erziehung auf, mit dem er zum wohl bedeutendsten, auch besonders umstrittenen Pädagogen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde. In seiner "Pädagogik der Unterdrückten" (1970) steht die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins bei den Machtlosen im Mittelpunkt. Seine Methode basiert auf dem unmittelbaren Erfahrungsraum der Gruppe. Ziel ist es, dass der Lernende sich aus Abhängigkeiten befreit, indem er die Welt als wandelbar sieht und erkennt, dass viele Regeln und schulische Mythen (z. B. "es gibt eine natürliche Unterlegenheit der Unterdrückten") nur dazu aufgestellt wurden, um den Status quo aufrecht zu erhalten. Wie wichtig eine stärkere Auseinandersetzung mit Freires Ideen für das deutsche Bildungswesen sein könnte, zeigt die internationale Vergleichsstudie "Demokratie und Bildung in achtundzwanzig Ländern" (CIVIC). Diese im Schatten der "PISA-Studie" kaum beachtete Untersuchung zu zivilgesellschaftlichem Wissen und Engagement zeigt deutsche Schüler/innen in vielen Kategorien im unteren Drittel. Sie nehmen den drittletzten Platz in erwarteter Partizipation an politischen Aktivitäten ein und haben mit Abstand die negativste Einstellung gegenüber Immigranten. Literatur: Herbert Gudjons: Pädagogisches Grundwissen. Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn 1999 Klaus Peter Horn Christian Ritzi (Hg.): Klassiker und Außenseiter. Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2001 Dieter Lenzen (Hg.) (1997): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997 Klaus-Jürgen Tillmann: Schultheorien. Bergmann+Helbig, Hamburg 1987 Judith Torney-Purta et al.: Citizenship and Education in Twenty-eight Countries: Civic Knowledge and Engagement at Age Fourteen. The International Association for the Evaluation of Educational Achievement, 2001
Autor/in: Michael Ruf (Erziehungswissenschaftler), 01.01.2003