Die zehnjährige Chihiro sitzt im Auto ihrer Eltern und schmollt, weil sie nicht umziehen will. Plötzlich verirrt sich die Familie auf dem Weg in die neue Stadt und stößt auf einen Tunnel, hinter dem sich eine wunderschöne Welt verbirgt. Die Sonne scheint, die Luft ist ganz frisch und es gibt Essen im Überfluss. Nur Menschen sieht man keine . Während Chihiro ängstlich umkehren will, machen sich die Eltern gierig über die aufgetürmten Köstlichkeiten her und verwandeln sich vor den Augen ihrer Tochter in Schweine. Chihiro bekommt furchtbare Angst und weiß nicht, was sie tun soll.
Ein kleines starkes Mädchen
Erstmals ist sie ganz auf sich gestellt. Im dunklen Tunnel klammerte sie sich noch ängstlich am Arm ihrer Mutter fest. Nun liegt es allein an Chihiro, ihre Eltern zu retten. Der freundliche Junge Haku verrät ihr, es gebe nur eine Möglichkeit, sie zu befreien: Chihiro muss in den Dienst der Hexe Yubaba treten, die in der Zauberwelt Aburaya ein Badehaus für gestresste Geister und Götter betreibt. Anfangs noch ängstlich, bald jedoch immer mutiger nimmt Chihiro Kontakt mit der fremden Umwelt auf. Ihr Selbstbewusstsein wächst mit jedem Abenteuer, dass sie in der Geisterwelt besteht. Ihre Loyalität gegenüber den manchmal recht merkwürdigen Bewohnern der Zauberwelt und ihre unbestechliche Konzentration auf das Ziel, das sie hier verfolgt, lässt sie am Ende gewinnen.
Die Eltern als falsche Vorbilder
Chihiros Eltern werden als zu sehr mit sich selbst beschäftigt gezeigt und werden dafür zunächst bestraft: Obwohl sie unbedingt pünktlich in ihrem neuen Haus sein wollten, lassen sie sich von den Verlockungen der fremden Zauberwelt in den Bann ziehen. Der Vater rechtfertigt die Selbstbedienung an den üppigen Speisen mit seiner gut gefüllten Brieftasche. Er kann das ja alles bezahlen und damit schien jegliches Nachfragen überflüssig. Regisseur Miyazaki kritisiert mit Chihiros Eltern auch ein wesentliches Prinzip der heutigen Gesellschaft: die vermeintlich uneingeschränkte Käuflichkeit von allem und jedem.
Leben, um zu arbeiten?
So kann auch die kleine Chihiro in Aburaya nur überleben, wenn sie Arbeit findet doch niemand hat ihr eine anzubieten. Sie muss deshalb befürchten, auch in ein Tier verwandelt und irgendwann gegessen zu werden, so lange sie sich nicht nützlich machen kann. Yubabas Regeln im Zauberland erinnern speziell an die moderne japanische, aber auch allgemein an die gesamte westliche Welt: Natürlich muss jeder etwas zum Gemeinwohl beitragen und darf sich nicht einfach bedienen. Gelingt einem das jedoch nicht, etwa weil einfach keine Arbeit mehr da ist, erweckt man den Eindruck eines Schmarotzers und wird ausgestoßen. Die anhaltende Wirtschaftskrise in Japan und vielen anderen Teilen der Welt brachte stark anwachsende Arbeitslosenzahlen mit sich und wird zum existenziellen Problem von Gesellschaften, die sich ausschließlich über den Konsum definieren. Miyazaki kritisiert diese Entwicklung, die sich in seinem Film nur durch Mut und Beharrlichkeit sowie ein klares Ziel vor Augen ändern lässt.
Geistige und materielle Umweltverschmutzung
Bei ihrer Arbeit im Badehaus wird Chihiro angehalten, auch den fürchterlich stinkenden Faulgott freundlich zu begrüßen, denn er ist ein Gast und hat viel Geld. Neben einer Anspielung auf die berechnende Heuchelei der Verkäufer dieser Welt, nutzt Miyazaki diese Episode vor allem für eine ökologische Botschaft. Als Chihiro dem stinkenden Ungetüm bei der Reinigung behilflich ist, fördert es in einer gewaltigen Eruption all den Unrat zutage, der sich in dem armen Wesen abgelagert hat. Eigentlich ist der Faulgott nämlich ein Flussgott, der nach der Reinigung wieder als solcher erkennbar wird, ganz erleichtert durch das Fenster entflieht und das Gerümpel in Yubabas Badehaus zurücklässt.
Die Schwierigkeit, "nein" zu sagen
Schon Yubabas Riesenbaby Boh macht sich Sorgen, allerdings nicht um die Umwelt, sondern wegen ihr. Als Chihiro bei ihm auftaucht, argwöhnt er sofort, dass sie nur gekommen sei, um ihn krank zu machen. Aus Angst vor Bakterien hat Boh sein über und über mit Spielzeug vollgestopftes Zimmer noch nie verlassen. Wieder spielt Miyazaki deutlich auf gängige westliche Werte an. Überall lauern furchtbare Gefahren für Kinder, nur übermäßiger Konsum wird nicht als Gefahr erkannt, sondern im wörtlichen Sinne bereits in die Wiege gelegt. In ganz Aburaya kann nur die kleine Chihiro "nein" sagen, wenn sie etwas nicht braucht. Das bringt ihr die Zuneigung des heimatlosen Geistes Ohngesicht ein, der sich die Freundschaft der anderen mit Gold erkauft. Chihiro entdeckt in dem berechnenden Geist einen Leidgenossen und begegnet ihm trotz seiner Hinterhältigkeit ganz ohne Furcht.
Ambivalent, göttlich und zutiefst menschlich
Im Gegensatz zur Eindimensionalität vieler klassischer Märchenfiguren sind die Bewohner Aburayas alle ambivalent gestaltet und wirken trotz ihres seltsamen Aussehens sehr menschlich. Neben Ohngesicht hat zum Beispiel auch der freundliche Haku seine dunklen Seiten. Weil er von Yubaba das Zauberhandwerk erlernen will, beraubt er in ihrem Auftrag auch die gutmütige Zwillingsschwester Zeniba, die ihn dafür mit einem Fluch belegt. Nun muss Chihiro ihrem Freund helfen. Bei der Figur des Haku sind einfache Grundkenntnisse der japanischen Kultur und Religion von Vorteil. Denn Haku tritt mal in Gestalt eines Menschen und dann wieder in Gestalt eines Drachen auf, was Chihiro vermutlich schneller als ein westlicher Zuschauer erkennt. Als der Junge gerettet ist, klärt sich auch Chihiros Gefühl auf, ihm schon einmal begegnet zu sein: Haku ist Gott in Gestalt eines Drachens, der in Japan als glückbringendes Wesen verehrt wird. Drachen leben in Wolken und Flüssen. Haku war es, der Chihiro Jahre zuvor das Leben rettete, als sie als kleines Kind in den Fluss fiel.
Ein Märchen über unsere Realität
Hayao Miyazaki hat die Bewohner Aburayas in liebenswerter Detailtreue gezeichnet und ihnen Charaktere verliehen, die man so schnell nicht wieder vergisst und manchmal auch in unserer Alltagsrealität zu entdecken meint. Die Bilder sind von beeindruckender Tiefe und Lebendigkeit, die nichts mit der Eindimensionalität der oft im Fernsehen gezeigten Animes gemein haben. Der Verweis auf japanische Traditionen macht ihren besonderen Reiz aus, beeinträchtigt aber in keiner Weise den Zugang zum Film.
Chihiros Reise ins Zauberland ist ein Märchen, erzählt aus der fantasievollen Perspektive eines kleinen Mädchens. Dieser Blickwinkel ermöglicht dem Regisseur die schonungslose Darstellung unserer Realität. Nachdem Chihiro ihre Eltern aus der Zauberwelt erlöst hat, ist für sie wieder alles wie früher, denn sie können sich an nichts erinnern. Die Eltern ermahnen sie, nicht zu bummeln und nicht zu stolpern. Als sie das Auto erreichen, das im Laufe der Zeit ganz zugewachsen ist, vermuten die Eltern dahinter gar einen Kinderstreich. Chihiro kann sich über so viel Unwissen und Einfalt nur wundern.
Autor/in: Dinah Münchow (Text vom 01.06.2003), 05.01.2021