Venedig 2003 – 60. mostra internationale d'arte cinematografica
Rosenstraße
Eine ganze Reihe von sehr sehenswerten Wettbewerbsbeiträgen ohne absolute Highlights, die erklärtermaßen entweder nach ästhetisch-künstlerischen Gesichtspunkten ausgewählt waren oder sich mit dem diesjährigen Schwerpunkthema des Islam und der arabischen Kultur in Begegnung mit der westlichen Zivilisation auseinander setzten, kennzeichneten das zweite Amtsjahr von Festivalleiter Moritz de Hadeln auf der 60. Mostra in Venedig. Sein Vertrag wurde bereits vor Festivalbeginn für das Jahr 2004 verlängert, was ihm Ansporn genug sein sollte, neben dem gelungenen thematischen Schwerpunkt in diesem Jahr zukünftig auch die Programmplanung der Filme zu verbessern, insbesondere die Wettbewerbsbeiträge nicht willkürlich über den ganzen Tag zwischen 9.30 und 24.00 Uhr (!) zu verteilen.
Raja
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Erinnerungen an den Holocaust
Das Thema Judenverfolgung war nicht nur im deutschen Wettbewerbsbeitrag Rosenstraße von Margarethe von Trotta (siehe diese Kinofenster-Ausgabe) zu finden, der von der italienischen Kritik sehr wohlwollend aufgenommen wurde und von der Jury mit dem Darstellerpreis für Katja Riemann belohnt wurde (weitere Preise siehe Anhang). Widerstand von Frauen gegen ein Terrorregime aus Sorge um ihre verschleppten Männer und Kinder gab es auch unter der argentinischen Militärjunta. Vor diesem Hintergrund spielt Christopher Hamptons dramaturgisch allerdings misslungener und ob seines unglaubwürdigen Endes gar peinlicher Film Imagining Argentinia über einen Künstler mit "zweitem Gesicht" auf der Suche nach seiner von der Geheimpolizei verschleppten Frau. In einer Nebenhandlung, die Parallelen zum Nationalsozialismus sucht, zeigt er ehemalige Überlebende des Holocaust, die in einem Land eine neue Heimat gefunden haben, das nun selbst zum Mittel willkürlicher Verhaftungen und Ermordungen greift, um angebliche "Feinde" der Gesellschaft auszuschalten. – Nach einem Roman von Witold Gombrowicz erzählt der polnische Regisseur Jan Jakub Kolski in Pornografia scheinbar beiläufig und daher um so bedrückender die Geschichte eines Schriftstellers, der auf einem idyllisch wirkenden Gutshof fernab des Kriegsgeschehens das in Anbetracht der Zeitumstände fast schon amoralisch wirkende Leben eines Bohemiens führt. Doch auch dieser Ort birgt einige schreckliche Geheimnisse, es gibt einen Verräter, der zu beseitigen ist, unerwartete Todesfälle und Intrigen um die hübsche Tochter des Gutsherren. Erst im weiteren Verlauf enthüllt sich die ganze Tragik des Künstlers, der mit einer Jüdin verheiratet war und im entscheidenden Moment des Abtransports die Tochter verleugnete, um selbst überleben zu können. Kolski erzählt dieses Schicksal in einem von Melancholie getragenen Rhythmus und in poetischen Bildern, hinter denen schockartig plötzlich das Grauen aufblitzt. Araber und Franzosen Raja im gleichnamigen Film von Jacques Doillon ist eine 19-jährige marokkanische Waise, vom älteren Bruder auf die Straße zum Geldverdienen geschickt, von der Tante im Haus geduldet, von Landsleuten vergewaltigt, ohne Zukunftsperspektiven in einer Männergesellschaft, die ihr nur die Rollen der gefügigen Hausfrau oder der frei verfügbare Hure gestattet. Raja verliebt sich in einen französischen Grundbesitzer, zumal die Avancen des wesentlich älteren Mannes in ihr die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Wohlstand, Heirat, Familie geweckt haben. Aus erotischen Träumen und neokolonialistischem Besitz- und Kaufdenken entwickelt sich bei beiden dennoch echte Liebe trotz unterschiedlicher Kulturen. Missverständnisse, Sprachprobleme und Intrigen verhindern aber eine klare Aussprache, der reiche Franzose glaubt, sie habe es nur auf sein Geld abgesehen, sie dagegen möchte sich nicht kaufen lassen, sondern mit echten Gefühlen "erobert" werden. Doillon steht zunächst ganz auf der Seite der jungen Frau, schildert ihre tägliche Misere, ihre Ausbeutbarkeit, ihre geringen Wahlmöglichkeiten, während der Franzose im Unterschied ein angenehmes Leben im libertinären Stil führt. Erst in der zweiten Hälfte entwickelt der Film auch Sympathie für den Mann, der in seinen Gefühlen blind und in der Vorstellung gefangen bleibt, sich alles kaufen zu können und diese Liebe zwischen den Kulturen damit zum Scheitern verurteilt.
Der Drachenflieger
Franzosen und Araber
Ganz anders die Begegnung zwischen den Kulturen im außer Konkurrenz präsentierten Film von François Dupeyron. Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran nach einem auch in Deutschland erschienenen Bestsellerroman entführt in das Paris der 1960er Jahre in eine kleine Straße inmitten des Rotlichtmilieus. Die Hauptfigur, ein jüdischer Junge, wächst allein bei seinem depressiv veranlagten Vater auf, nachdem die Mutter beide verlassen hat. Der Vater scheint vom Leben überfordert, daher sucht und findet der Junge in der Nachbarschaft einen Ersatzvater, einen älteren Perser islamischen Glaubens, der seine ganze Lebensweisheit aus dem Koran bezieht. Nach dem Selbstmord des Vaters wird der Junge vom "Araber" adoptiert. Gemeinsam erfüllen sie sich einen Lebenstraum und fahren mit einem roten Sportwagen, den sie einmal bei Dreharbeiten in der Stadt gesehen haben, über den Balkan gen Osten in die Heimat des Alten. In diesem liebenswerten, charmanten Film mit Omar Sharif in der Hauptrolle ist der Koran noch kein Buch der lebensfeindlichen Moralgesetze wie unter den Taliban und anderen Radikalislamisten, sondern ein Buch der Erkenntnis, der Lebensweisheit, der Harmonie im Einklang mit sich und der Umwelt, explizit auch ein Vorbild für Juden. Trotz einiger Längen und kleiner dramaturgischer Fehler ist diesem gut gespielten und amüsanten Film für mehr Toleranz zwischen den Religionen und Kulturen möglichst bald auch ein Verleihstart in Deutschland zu wünschen.
A Talking Picture
Erneute "Grenzziehungen"
Le cerf-volant/Der Drachenflieger der libanesischen Filmemacherin Randa Chahal Sabbag erzählt die verhinderte Liebesgeschichte zwischen einer 15-jährigen Araberin aus einem libanesischen Grenzort zu Israel und einem arabischen Soldaten aus Israel, der an der Grenze Wache schieben muss. Der Film zeigt, wie Verwandte und Bekannte willkürlich auseinander gerissen werden, wie sie sich nur per Megaphon über die mit Stacheldraht und Landminen gesicherte Grenze unterhalten können, wie selbst ganz persönliche Angelegenheiten dadurch für alle Öffentlichkeit hörbar werden, wie Teile des Ortes über Nacht von den Israelis aus "Sicherheitsgründen" einfach annektiert werden. Er zeigt aber auch, dass die Araber in Israel wesentlich bessere Lebensbedingungen vorfinden, ihnen gar bescheidener Wohlstand winkt, symbolisiert freilich durch die höchst ambivalente Szenerie eines Schwimmbades inmitten einer trostlosen Karstlandschaft. Der Film verschweigt auch nicht die Intoleranz auf Seiten der libanesischen Ortsgemeinde und deren rückständige Heirats- und Lebensbedingungen, denen die Frauen in der traditionellen Männergesellschaft immer noch ausgesetzt sind. Sabbag inszenierte ihren kleinen aber feinen Film nicht als soziales Drama, sondern unterlegte ihn teilweise gar mit beschwingter Musik. Der ruhige Erzählfluss, Traumsequenzen, eine poetische Bildsprache, die Distanz zur erzählten Geschichte, nicht aber zu den Darstellern verhindern eine zu einseitige Rezeption des Films und unterstreichen den universellen Charakter der modernen Romeo-und-Julia-Geschichte. Das ermöglicht gerade auch für ein westlich orientiertes Publikum Empathie in den schwierigen Alltag eines geteilten Volkes auf beiden Seiten der Grenze.
Loving Glances
Zivilisation und Terror
Altmeister Manoel de Oliveira macht es dem Publikum in seinem neuen Film A Talking Picture zunächst nicht leicht, zumal der Titel wirklich hält, was er androht: es wird im Film mehr geredet als erzählt. Eine Geschichtslehrerin reist mit ihren kleinen Tochter per Schiff von Portugal durch das Mittelmeer und den Suez-Kanal bis nach Bombay zu ihrem Mann, wo die beiden aber nie ankommen werden. Auf ihren Landgängen besuchen die beiden antike Stätten der westlichen Zivilisation, von Pompeij über die Akropolis und Istanbul bis zu den Pyramiden, und die Mutter nutzt diese Ausflüge für Geschichtsstunden für ihre unglaubwürdig wissbegierige Tochter. Die Szenerie ändert sich, je weiter das Schiff in den arabischen Kulturkreis eindringt, ausführliche Gespräche über Eroberungsfeldzüge, Sprachkultur und Errungenschaften der westlichen Zivilisation mit drei Künstlerfrauen und dem polyglotten Kapitän des Schiffes enden schließlich in einem Desaster, das durch arabische Terroristen verursacht wurde. Durch das überraschende Ende gewinnen die bisweilen ermüdenden und klischeehaften Diskussionen über Geschichte und Kultur des Abendlandes rückwirkend einen tieferen Sinn, der eine moralische Parteinahme für den Westen einschließt und die Absurdität und Idiotie aller Terroranschläge gegen Unschuldige unterstreicht.
Biongiorno, notte
Versöhnliches
Dem serbokroatischen Wettbewerbsbeitrag Loving Glances von Srdjan Karanovic war es vorbehalten, wieder eine versöhnliche Komponente zwischen den Religionen und Ethnien beizusteuern. Isoliert betrachtet kommt die Liebesgeschichte zwischen zwei Flüchtlingen aus dem ehemaligen Völkerverbund Jugoslawien jedoch über das leicht unterhaltsame Mittelmaß nicht hinaus, zumal die verstorbenen Verwandten der beiden Hauptfiguren immer mit von der Partie sind und sich die schönfärberischen Erlebnisse der beiden überwiegend zwischen Partnerschaftsagentur und Tanzabenden für "einsame Herzen" bewegen. Ansatzweise erfährt man dann aber doch etwas über die Identitätsprobleme eines aus Sarajewo kommenden Serben und eine halb aus islamischem Elternhaus stammende Frau, und wenn sich am Ende der Serbe aus Liebe ganz bewusst gegen seine ehemalige serbische Freundin und für eine "Mischehe" mit der moslemischen Frau entscheidet, mag das zumindest im Heimatland des Regisseurs als gewagt und ein deutliches Zeichen der Wiederverständigung über alle Barrieren hinweg gelten.
Die Rückkehr
Schultze gets the Blues
Politische Filme aus dem Gastgeberland Italien
Zwei der drei italienischen Wettbewerbsbeiträge gaben sich ausgesprochen politisch: Segreti di Stato/Staatsgeheimnisse von Paolo Benvenuti ist ein sehr didaktisch aufbereitetes Dokumentarspiel über ein Massaker in Sizilien zu Beginn der 1950er Jahre, bei dem ein berüchtigter Bandit ein Blutbad bei einer kommunistischen Wahlveranstaltung anrichtete, bevor er unmittelbar danach selbst erschossen wurde. Der Verteidiger eines seiner Mitstreiter recherchiert jedoch die wahren Schuldigen des Massakers und deckt eine politische Verschwörung auf, die bis in höchste Kreise führt, von der italienischen Regierung über den Vatikan, den CIA und sogar den amerikanischen Präsidenten Harry Truman, die alle auf diese Weise die kommunistische Unterwanderung in Europa stoppen wollten. Der gut im Fernsehen aufgehobene Film hält sich eng an die Aufzeichnungen des inzwischen verstorbenen Anwalts, wirkt überzeugend in seiner Argumentation, ist allerdings sehr belehrend und trocken erzählt. – Weitaus besser geeignet für die Leinwand und von den Kritikern als möglicher Gewinner favorisiert gewesen ist Marco Bellocchios spannendes und bewegend gespieltes Dokudrama Buongiorno, notte/Guten Tag, Nacht . Ganz aus der subjektiven Perspektive einer jungen Linksterroristin mit bürgerlichem Doppelleben zeichnet der Film die Entführung des designierten Ministerpräsidenten Aldo Moro im Jahr 1978 nach, an der sie beteiligt war. Bis auf einige dokumentarische Aufnahmen spart er weitgehend alles aus, was damals über Wochen die Nachrichten füllte, vom politischen Geplänkel über Moros Person bis zur allgegenwärtigen Präsenz der Polizei und ihrer pannenbehafteten Suche nach Moros Versteck. Man sieht weder die Entführung selbst, noch erfährt man biografische Details über die männlichen Entführer und ihre politischen Ziele. Bellocchio konzentriert sich ganz auf die wachsenden moralischen Skrupel der jungen Frau angesichts der menschlichen Tragödie des Entführten, der – den nahen Tod vor Augen – seinem Schicksal und dem Verrat seiner politischen Freunde mit Würde begegnet. In der Reduktion auf nur zwei Hauptfiguren und durch ein unrealistisches, traumhaftes Ende regt der Film zur Auseinandersetzung sowohl mit den menschenverachtenden Aktionen der Roten Brigaden als auch mit dem politischen System an, das diese damals zu bekämpfen suchten, und ist ein weiteres Plädoyer gegen Terror, egal von welcher Seite und für welche Ziele.
Holger Twele
Preisträger (Auswahl):
Andrey Zvyagintsevs beklemmend dicht erzähltes russisches Vater-Sohn-Drama Vosvrascenie/Die Rückkehr ist bei der 60. Mostra als bester Film mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden. Der Silberne Löwe ging an den libanesischen Film Le cerf-volant/Der Drachenflieger von Randa Chahal Sabbag. Mit dem Silbernen Löwen als bester Regisseur wurde Takeshi Kitano für den Publikumsfavoriten Zatoichi geehrt. Je einen Coppa Volpi erhielten Katja Riemann als beste Schauspielerin für ihre Rolle in Rosenstraße und Sean Penn als bester Schauspieler für seine Rolle in 21 Grams des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzáles Inárritu. Darüber hinaus wurde Marco Bellocchio für sein Drehbuch zu Bongiorno, notte ausgezeichnet. Auch der zweite deutsche Film im Gesamtprogramm, Schultze gets the Blues von Michael Schorr, der in der Reihe "Controcorrento" lief, ging in Venedig nicht leer aus: Das wundervoll schräge, witzig-melancholische Spielfilmdebüt über einen Frührentner aus einem Dorf in der ehemaligen DDR, der in die Südstaaten der USA fährt, erhielt den Spezialpreis der Regie. Schließlich wurden der Schauspieler Omar Sharif und der Produzent Dino de Laurentiis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006