Hintergrund
Die Unsterblichkeit der Engel
Szene aus dem Film "Lilja 4-Ever"
Selbstverständlich gibt es Engel. Sie sind überall unterwegs, zum Beispiel als City-Biker mit ihren dicken Transport-Rucksäcken, immer ein bisschen gehetzt, immer ein bisschen verschwitzt. Oder als Informationsstrom im Telefonkabel, wo sie Digitalpäckchen auf kleinstem Raum transportieren. Oder über den Wolken, wo sie sogar Flügel haben und die Kontinente mit Menschen und Lasten verbinden.
Raffaels Knaben
Solche Vorstellungen passen zunächst überhaupt nicht in unser Engel-Bild, das von den beiden gelangweilten Schmetterlings-Knaben zu Füßen von Raffaels Sixtinischer Madonna geprägt und allgemein beliebt ist, deswegen zu Terrakotta, Kupfer oder Schokolade verkitscht wird. Vielleicht ist es auch von den hohen Gestalten auf den Schutzengelbildern beeinflusst, die Kinder über bedrohliche Abgründe oder durch den Straßenverkehr geleiten. Sie erscheinen uns auch als Rauschgoldwesen, wie sie zur Weihnachtszeit massenhaft einfliegen.
Das Medium ist die Botschaft
Dabei vergessen wir, dass "angelos" zunächst nichts anderes heißt als Bote, Gesandter, Briefträger, Überbringer. In erweiterter Wortbedeutung ist "angelos" das griechische Wort für die Nachricht selbst, steht also zugleich für Information und Informationsträger. Heute müssen wir uns den Engel also als Mail-Box eines Computers und als elektronische Botschaft in dieser Box vorstellen. Dazu fällt einem selbstverständlich das Wort Medium ein, in vieler Hinsicht. In der Bibel zum Beispiel spricht Gott durch das Medium des Engels mit seinem Volk oder mit Maria.
Engel im Informationszeitalter
Es heißt, wir leben im Informationszeitalter. Folglich ist es hohe Zeit für Engel. Wie sehr sie in die Kommunikation verstrickt sind, hat der französische Kulturwissenschaftler Michel Serres in seinem Buch "Die Legende der Engel" beschrieben. Danach versinnbildlichen die uralten Mittler unsere Telearbeiter/innen, Postboten/innen, Übersetzer/innen, Repräsentanten/innen, Kommentatoren/innen und gleichzeitig die Glasfasern, das Internet und das Handy. Die Rückkehr der Engel findet statt, weil auch der Computermensch sich und seine Wirklichkeit besser durch Bilder und Geschichten begreifen kann, als durch die abstrakte Analyse der technologischen Entwicklung oder seiner sozialen Rollenspiele. Deswegen wimmelt es Serres zufolge auf allen möglichen Feldern der Alltagskultur von "angeloi".
Märchenträume von Geborgenheit
Im Kino ist das nicht anders. Im Film kommen Engel gern mit Flugzeugen an. Das haben uns sowohl Wim Wenders in Der Himmel über Berlin als auch Jean Luc Godard in Maria und Joseph gezeigt. Manchmal stehen sie einfach vor der Tür und sorgen für große Verwirrung in einer Familie, für Verzweiflung und Befreiung wie in Teorema von Pier Paolo Pasolini. Sie haben eine Tendenz, die Welt zu retten. Davon handelt Andrej Tarkowskis Opfer, in dem der Engel auch nur ein radelnder Briefträger ist. Die Ideen von Schutzgeistern, die über uns wachen, kolportieren wir unermüdlich seit den frühen Sagen und Mythen. Die Märchenträume von Geborgenheit sind in den modernen Medien nur modifiziert worden.
Superhelden und Ufonauten
Der Schutzengel von heute heißt Superman oder Batman, oder er ist ein "Sanctuary Angel" aus einem japanischen Manga. Superman ist unentwegt rings um den Globus unterwegs, um Beschützer-Aufgaben zu verrichten. Wie ein Engel kann er fliegen, und sein flatterndes Cape ersetzt ikonografisch die klassischen Federschwingen. Allenthalben ist die Unterhaltungsindustrie damit beschäftigt, Engel-Surrogate herzustellen. Weil sie hoch vom Himmel herkommen, müssen auch die Ufonauten die Rollen der Engel übernehmen. Steven Spielberg hat in dem Film Unheimliche Begegnung der dritten Art die Landung eines Ufos wie die heilige Ankunft der himmlischen Heerscharen inszeniert. Aber auch die Kehrseite hat Konjunktur: In Independence Day sind die Horden der Apokalypse im Raumschiff auf der Erde angelangt, Boten des Bösen, die gefallenen Engel aus der Armee des Luzifer, wie sie in Gregory Wilden's God's Army gezeigt wird. In Dogma von Kevin Smith dagegen sind die Engel auf die Erde verbannt, weil sie es satt hatten, als Rachegeister blutige Aufträge Gottes wie die Ermordung der ägyptischen Erstgeborenen auszuführen.
Die Legende der Rebellen
Die Legende vom Engelssturz wird man in der Bibel vergeblich suchen; sie entstammt einer apokryphen Schrift. Dennoch hat die Geschichte von Rebellion und Bestrafung einer Engels-Fraktion immensen Einfluss auf Theologie und Volksreligiosität ausgeübt. Die Kultur wäre ärmer ohne diese Erzählung. Literatur, Malerei und Musik leben auch aus dieser Tradition. Die aktuelle Unterhaltungsindustrie variiert den Stoff in ihrem Sinn. Zahllose Comic-Romane beschwören den gefallenen Engel. Im Kino tritt Luzifer unter anderem in Roman Polanskis Rosemaries Baby und Alan Parkers Angel Heart auf.
Von guten Geistern verlassen
Dass Schutzengel scheitern können, muss in einer Welt des offensichtlich Bösen erklärt werden. Im Twin-Peaks-Kinofilm von David Lynch flüchtet der Schutzengel sogar vom Sofabild der Laura Palmer, so entsetzlich ist die Situation des jungen Mädchens geworden. Von allen guten Geistern verlassen zu sein, ist eine Urangst des Menschen. Bevor sich die letzte Nestwärme in die Kälte der aufgeklärten Welt verflüchtigt, rekapituliert er seine alten Märchen von der Beseelung der Dinge und von den unsichtbaren Geistern in seiner Nachbarschaft.
Wünsche und Sehnsüchte
Deswegen können die Engel nicht sterben. Deswegen werden sie in unzähligen Schlagern herbeigerufen. "Wenigstens DU sollst mein Engel sein", klingt es da immer wieder. Die Hitparade ersetzt das Schutzengel-Gebet vor dem Einschlafen und zitiert die angestaubte Operetten-Sehnsucht jedes Einsamen: "Du hast im Himmel viele Engel bei dir, schick doch einen davon auch zu mir!" Die Konjunktur der zahllosen Engel-Bücher aus den letzten Jahren nährt sich aus denselben Wünschen. Manche dieser Bücher verwandeln Engel in esoterische Wunscherfüllungs-Maschinen. Andere, wie die von Pater Anselm Grün, machen Mut für den Alltag, indem sie die Engel symbolisch deuten.
Das virtuelle Reich der Engel
Wir können auf die Engel nicht verzichten, umso weniger, als sich die Welt immer stärker um Botschaften organisiert. Die Zukunftsforscher sagen voraus, dass bald alles von der Information abhängen wird, dass die Zugriffsmöglichkeit auf Informationen über Elend und Reichtum entscheidet. Aber all diese Informationen werden zunehmend virtuell, erscheinen als Möglichkeiten im Datennetz. Die meisten werden nie realisiert. Damit wird die Welt dem Engelsreich immer ähnlicher, das voller virtueller Botengänger ist. Wir möchten uns diese gerne zu Schutzgeistern zähmen, aber stets tragen sie auch den Widerspruch der Rebellion in sich.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006