Sommerhitze im Paris der 1950er Jahre, Lärm, Menschengewimmel, Staub und die Nachmittagssonne. An einem geöffneten Fenster steht ein Junge und blickt auf die schmale Rue Bleue hinaus, wo Prostituierte ihrer Arbeit nachgehen. Besonders eine Afro-Französin mit blonder Perücke hat es dem heftig pubertierenden Knaben angetan. Sehnsüchtig betrachtet er Tag für Tag die Schöne, während er Sätze vor sich hinmurmelt, mit denen er sie ansprechen könnte, ohne ausgelacht zu werden. Abgesehen von den Hormonen, die in ihm wüten, hat Moses jedoch wenig Erwachsenes. Er ist ein stilles, ernstes Kind, das nach der Schule seinem schlecht gelaunten Vater den Haushalt führt, denn die Mutter hat, so ahnt man, die Familie verlassen, weil sie eben das nicht mehr hat tun wollen. Auch einen älteren Bruder scheint sie mitgenommen zu haben. Nachmittags kreuzt Moses die Rue Bleue, um "beim Araber" einzukaufen. "Araber", das ist ein Synonym für einen Laden, der sechzehn Stunden am Tag geöffnet hat, auch sonntags. Und sieht nicht dessen Besitzer, Monsieur Ibrahim, auch arabisch aus? "Ich bin kein Araber, ich bin Moslem", erklärt jener jedoch dem Jungen.
Vaterlos trotz Vater
Der Lebensmittelhändler ist nur eines der Rätsel, die Moses' Leben ausmachen. Er hat keinen Vater, den er wirklich fragen kann, was für ein Geheimnis die Frauen hüten, oder warum Mutter und Bruder fortgegangen sind, ob die Tochter der Concièrge in ihn oder einen anderen Nachbarsjungen verliebt ist, und ob Liebeskummer eines Tages vorbeigeht. Denn der Vater hat Verdauungsstörungen, und wenn er einmal nicht isst oder liest, sitzt er auf der Toilette.
Vaterersatz
Monsieur Ibrahim könnte der Großvater von Moses sein – und was für einer! Er ist so gütig, weise und witzig, wie es nur alte Männer sein können, und er weiß so viel über die Welt, zum Beispiel über die Liebe und jugendliche Gefühle, dass er auch noch jünger sein könnte. "Ich weiß nur, was in meinem Koran steht", lächelt der Alte stets, wenn Moses ihn löchert, und er bringt den jüdischen Jungen sogar dazu, in dicken Lexika Worte nachzuschlagen, die er nicht verstanden hat. "Sufismus" zum Beispiel, was ist das für eine Glaubensrichtung?
Einfacher Austausch
Ein wenig blass bleibt freilich die Beziehung zwischen dem Jungen und seinem leiblichen Vater. Und es scheint eine zu einfache Lösung zu sein, dass der Mann plötzlich auch noch ganz aus Moses' Leben und damit aus dem Film verschwindet. So bleibt der Junge allein. Und endlich kann sich Monsieur Ibrahim um ihn kümmern wie um einen eigenen Sohn, den er nie hatte. Er kauft sogar ein Auto, um mit dem Jungen eine Reise in seine türkische Heimat zu unternehmen. Dort allerdings heißt es Abschied nehmen – in mehrerlei Hinsicht.
Lebensglück und Toleranz
François Dupeyrons Film ist eine Reflexion über richtige und falsche Väter, über die Verantwortung, die es bedeutet, Kinder in die Welt zu setzen oder eben, es zu lassen, über Lebensglück und das Erwachsenwerden und die Religion. Ein kleines Wagnis ist der Regisseur dabei auch eingegangen: Zwar sind die Franzosen durch die Migranten/innen aus den nordafrikanischen Ländern und Paris mit seinen großen, jüdisch geprägten Stadtteilen im 3. und 9. Bezirk schon lange an einen unverkrampfteren Umgang mit Glaubensrichtungen gewohnt, die vom in Frankreich noch vorherrschenden Katholizismus abweichen, aber dennoch ist es mutig, gerade jetzt einen Film über die Schönheit der Lehren des Koran zu machen. Denn der Film ist auch eine Absage an den Fundamentalismus, eine kleine Anleitung zum Glück, das die Lehren des Koran bedeuten können, wenn man sie richtig versteht – so wie Moses, der am Ende des Films Mohammed, der "Araber" um die Ecke, geworden ist.
Nostalgischer Blick
Monsieur Ibrahim ist jedoch alles andere als ein Thesenfilm, auch wenn die beiden in Istanbul zunächst eine orthodoxe, dann eine katholische Kirche und schließlich eine Moschee besuchen, was ein wenig aufgesetzt wirkt. Ansonsten aber vermittelt die Kulisse der in mildes, gelbes Licht getauchten Stadt Paris ein Gefühl heiterer, ironischer Nostalgie, denn das Gelb steht in diesem Fall nicht nur für den Sommer, sondern auch für eine nicht allzu ferne Vergangenheit – genau wie die amerikanische Popmusik der Fünfziger, der Moses verfallen ist und die ständig aus allen Radiogeräten dringt.
Der Ausgleich eines Mangels
Die Beziehung zwischen dem alten Mann – wunderbar leise und freundlich gespielt von Omar Sharif, dem bisher einzigen "Araber", der es nach Hollywood schaffte – und dem Jungen ist eine, die aus Mangel entsteht: Man versteht, dass jeder der beiden in der Lage ist, die Defizite des jeweils anderen auszugleichen, und genau das ist schließlich die Basis vieler (Liebes-)Beziehungen. Aber es gibt auch eine gemeinsame Leidenschaft. In einer kleinen, sehr schönen Szene sieht man den Jungen, der gerade zum ersten Mal bei einer Prostituierten war, mit seinem Teddybären schmusen, den er später der jungen Frau schenken wird. Man begreift, wie sehr er die Anwesenheit einer mütterlichen Figur vermisst, wenn er, hungrig nach nicht gekaufter Zärtlichkeit, um die Huren herumstreicht. Diese Sehnsucht nach Frauen teilt er mit Monsieur Ibrahim, sie macht die beiden zu Komplizen. Aber der Ältere weiß, dass das wahre Glück in jedem selbst liegt. Und er gibt sich große Mühe, dem Jungen auch zu vermitteln, was Glück bedeutet: Lächeln zum Beispiel oder Langsamkeit.
Autor/in: Daniela Sannwald, 01.04.2004