Hintergrund
Musische Bildung
Musik ermöglicht Selbsterfahrung, Lebenshilfe, Ausdruck und Kommunikation. Sie ist daher ein wertvolles Medium für die Pädagogik und für therapeutische Maßnahmen. Vor allem seit Beginn der so genannten Klassik-Krise um die Jahrtausendwende setzt sich sukzessive die Erkenntnis durch, dass eine effiziente Musikerziehung nicht von einem starren Lehrpensum ausgehen darf, das möglicherweise die Beziehung der Schüler/innen zu ihrer inneren Musikalität zerstört. Sie soll stattdessen auf die Situation und die Interessen der Kinder eingehen. Die Musik muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie keine Scheu haben: bei der Lust am aktiven Gestalten, eigenen Erleben und Experimentieren. Klänge von Mozart oder Beethoven sind dann nicht mehr "heilig" im Sinne Distanz gebietender Ehrfurcht, sondern sind Ausgangspunkt für einen individuellen Weg zur Selbsterfahrung und zur eigenen Akzeptanz. Mittlerweile haben prominente Musiker/innen und Institutionen – alarmiert durch den dramatischen Zuschauerrückgang – Konzepte und Ideen in Zusammenarbeit mit engagierten Musikpädagogen/innen entwickelt, die Schüler/innen aktiv und lustvoll in ihre Arbeit einbeziehen. Solche Projekte bieten den Jugendlichen Chancen, an künstlerischen Prozessen teilzunehmen, soziale Kompetenzen zu erwerben und ihrem Leben neue Richtungen und Impulse zu geben.
Knut Weber und Schüler/innen der Paul-Klee-Grundschule beim Komponieren Projekt zu Kurtág, März 2004 (Foto: Education Abteilung, Berliner Philharmoniker /Fotograf: Akinbode Akinbiyi)
Soziale Kompetenzen
Besonders wichtig bei der Musikerziehung ist der soziale Aspekt, der immer gegeben ist, wenn Menschen miteinander musikalisch kommunizieren. Da wird nicht nur ein individuelles Bedürfnis befriedigt, gleichzeitig findet auch eine Integration in die jeweilige soziale Gruppe statt. Sich mit der Stimme in einen Chor einzuschwingen oder die Choreografie eines Tanzes zu erarbeiten, kann ein tiefes Erlebnis von Verbundenheit, Geborgenheit und Freundschaft vermitteln. Da in einer Aktionsgruppe jede/r einzelne zum Gelingen des Projekts beiträgt, kommt jedem/r ein hohes Maß an Verantwortung zu, was wiederum den persönlichen Ehrgeiz weckt. Positives Feedback wiederum stärkt das Ego, vermittelt Lebensfreude und Vertrauen in eigene, möglicherweise bis dahin noch unbekannte künstlerische und kreative Potenziale. Menschen, die sich künstlerisch schöpferisch betätigen, können nachweislich Konflikte und Krisen eher konstruktiv als durch Gewalt lösen. Musik eignet sich als universale Sprache darüber hinaus als ideales Medium zur transkulturellen Verständigung. Überhaupt bietet die aktive musikalische Gestaltung ein starkes Gegengewicht in einer Gesellschaft, die von tiefer Entfremdung, Isolation, Leistung und Profitdenken geprägt ist und nur wenige Perspektiven für Lebensqualität und Selbstverwirklichung eröffnet.
Projekt zu Kurtágs ... quasi una fantasia ... Sir Simon Rattle, Philharmoniker und die "4 Dirigenten" bei der Abschlusspräsentation im Kammermusiksaal, März 2004 (Foto: Education Abteilung, Berliner Philharmoniker /Fotograf: Akinbode Akinbiyi)
Körpersprache
Vor allem die Körpersprache, in der sich das individuelle Lebensgefühl und das Selbstbewusstsein ausdrückt, lässt sich durch musische Bildung positiv beeinflussen. Geringes Selbstbewusstsein kann durch künstlerische Aktivitäten kompensiert und überwunden werden. Dass sich vor allem klassische Musik stressmildernd und harmonisch auf das vegetative Nervensystem auswirkt, hat die Medizin längst nachgewiesen. Wenn Jugendliche ihre inneren Schwingungen wahrnehmen und diese lebendigen Impulse zum Ausdruck bringen, geschieht das am Besten über die Erzeugung von Tönen mittels eines Instruments oder im Ausdruckstanz. Innere Bewegungen sind Gefühle, Triebe, Impulse, die auf die gesamte körperlich-seelisch-geistige Befindlichkeit wirken. Vor allem im Atem und in der Stimme offenbart sich die Verbindung dieser Ebenen, spiegeln sich alle Gefühle und Befindlichkeiten: entspanntes Fließen, erschrecktes Stocken oder Stottern, verspannte Enge, Stöhnen, Seufzen, Lachen, Weinen, Staunen, Genießen. Bereits an der Art des Sprechens kann man erkennen, wie die Stimmung eines Menschen ist, ob und wie jemand versucht, sich zu tarnen, zu verstellen oder mit vermeintlich coolen Sprüchen eigene Unsicherheiten zu überspielen. Die aufmerksame Hinwendung zum Atem führt sehr bald zu einer äußerst feinen und intensiven Wahrnehmung des seelischen Zustands und ist insofern ein wichtiger Bestandteil künstlerischer Erziehung.
Berliner Projekte/Fallstudien
Das Großprojekt von Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern, die 2002/2003 mit 250 Schülern/innen eine Choreografie von Strawinskys "Sacre du printemps" auf die Beine stellten, ist vielleicht das spektakulärste Beispiel aus der Praxis, das alle genannten Möglichkeiten musischer Bildung einschließt. Doch auch andere experimentelle Projekte haben sich bewährt. Hervorzuheben ist etwa das Orpheus-Opernprojekt von Reinhard Keiser, das 2004 risikofreudig im Berliner Konzerthaus initiiert worden ist: Über einen Aufruf an alle Berliner Gymnasien warb man für die Einstudierung einer fragmentarisch überlieferten Barockoper Schüler/innen als Statisten, Ausstatter/innen, Bühnenbildner/innen, Requisiteure/innen und Dramaturgen/innen. Zwar kam die rein körperliche, sinnliche Erfahrung in den administrativen Aufgaben weniger zum Tragen als in Rattles Tanzprojekt. Doch das praxisnahe Entdecken von bislang ungeahnten Stärken und Kompetenzen – angeregt und gestärkt durch die Assistenz, den Zuspruch und die Anerkennung professioneller Partner/innen sowie den hohen Anspruch des Projekts – sorgten auch hier für Erfahrungen, die bei den Schülern/innen großen Nachhall fanden.
www.berliner-philharmoniker.de
Autor/in: Kirsten Liese, 01.08.2004