Venedig 2004 – 61. mostra internationale d'arte cinematografica
Heimat 3
Das erste Festival unter der neuen Leitung von Marco Müller (früher Rotterdam und Locarno) stand organisatorisch unter keinem guten Stern. Pannen und Verzögerungen bei den Filmstarts waren an der Tagesordnung und erbosten einen großen Teil des Fachpublikums. Dabei wäre das meiste mit einer einfachen Rechenaufgabe leicht zu vermeiden gewesen. Dass ein großer Kinosaal beispielsweise nicht binnen zwei Minuten geleert und wieder neu gefüllt werden kann und Programme auch nicht länger sein dürfen, als die dafür anberaumte Zeit bis zur nächsten Vorstellung, hätte auf den ersten Blick auffallen müssen. Und während es am Lido personell nicht einmal reichte, die Warteschlangen über die jeweiligen Verzögerungen zu informieren, ging auf dem Markusplatz mitten in Venedig eine Open-Air-Veranstaltung der neuen Dreamworks-Produktion Shark Tale mit immensem technischen und personellen Aufwand über die Bühne, die bei den umliegenden Ladenbesitzern/innen nur skeptische Blicke erntete. Gleichwohl muss man es Müller zubilligen, binnen vier Monaten ein ansehnliches Programm zusammengestellt zu haben, das einen dicken roten Faden erkennen ließ.
Lavorare con lentezza - Radio Alice 110.6 MHz
Familiengeschichten
Programmatisch für das ganze Festival und für viele der gezeigten Filme könnte Heimat 3 von Edgar Reitz stehen, die Fortsetzung der Saga über die Familie Simon aus dem Hunsrückdorf Schabbach. Das etwa elfstündige Epos beginnt mit dem Fall der Mauer 1989 und endet mit der Jahrtausendwende. Geschickt haben Reitz und Koautor Thomas Brussig die individuellen Schicksale einer gutbürgerlichen Großfamilie aus dem Hunsrück mit denen einiger ostdeutscher Handwerker vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands in jenen Jahren verbunden. Hoffnungen und Träume müssen sich an der Realität messen, Familien brechen auseinander und neue werden gegründet, Krankheit und Tod legen sich wie ein Schatten über alle, niemand bleibt von negativen Entwicklungen verschont, Entwurzelung und Neuorientierung gibt es überall und am Ende steht eine neue Generation, die ihre Zukunft erst noch gestalten muss. Nicht jedes Detail an diesem Mammutwerk ist rundum gelungen, das Künstlerpaar im Mittelpunkt der Filmhandlung wirkt bisweilen zu elitär, die Klassiker der deutschen Musik sind etwas reichlich unterlegt, manche Erzählstränge zu dick aufgetragen. Insgesamt aber überzeugen der große Atem des Films und die differenzierte Darstellung deutscher Lebens- und Identitätsgefühle. Edgar Reitz ist mit seiner Trilogie ein wohl einzigartiges Lebenswerk gelungen.
Vera Drake
Geschichtsbilder
Gegenüber der offensichtlichen Dominanz von privaten Geschichten und der filmischen Reflektion über Familienbürden und -bande in diesem Jahr vermochten die beiden Wettbewerbsfilme mit historischem Rückblick nicht zu überzeugen. Der Koreaner Im Kwon-taek ruft in Haryu insaeng (Wilde Jahre) das unruhige politische Klima seines Landes Ende der 1950er Jahre in Erinnerung, das von korrupten Politikern und Straßengangs beherrscht war und 1961 zum Militärputsch führte. Im ohne genauere Geschichtskenntnisse für ein ausländisches Publikum ohnehin nicht leicht zu dechiffrierenden Chaos jener Zeit versucht ein kleiner Gangster zu überleben und seinen Weg zu finden, was sich zu einem fast aussichtslosen Unternehmen entwickelt. – Guido Chiesas Film Lavorare con lentezza – Radio Alice 100.6 MHz spielt 1976 in Bologna und verknüpft die Geschichte zweier Arbeitsloser, die für einen geplanten Bankraub einen Tunnel graben, mit dem Aufstieg und Niedergang von Radio Alice. Die unabhängige Radiostation der Studentenbewegung wandte sich damals gegen bezahlte Arbeit und trat für sexuelle Freiheit ein. Das Thema bietet Stoff für eine interessante Geschichte, aber Chiesas Blick auf die naiven Vorstellungen und die Kleingeistigkeit jener Zeit ist zu desillusionierend und schlaglichtartig geraten, um Emotionen zu erzeugen.
Mar adentro
Land of Plenty
Menschen(ver)achtung
Weitaus brisanter und aufwühlender ist
Promised Land des israelischen Filmemachers Amos Gitai, der schonungslos darlegt, wie Beduinen, Palästinenser und Juden durchaus perfekt zusammenarbeiten, wenn es ums Geld und speziell um Menschenhandel geht. In Not geratene junge Frauen aus Osteuropa, die unter falschen Versprechungen nach Kleinasien gelockt wurden, werden auf ihrem vermeintlichen Weg in eine bessere Zukunft vergewaltigt, wie Vieh behandelt und verkauft, um schließlich in einem israelischen Bordell zu enden. Was diese Frauen erleiden, wird teils mit hektischer Handkamera, teils in ruhigen melancholischen Bildern erzählt. Besonders provokativ das Ende, denn erst ein palästinensischer Anschlag eröffnet einigen Frauen den Weg, ihrem Elend zu entkommen. – Nicht aus Menschenverachtung, sondern um jungen Frauen selbstlos und unentgeltlich zu helfen, bereitet
Vera Drake im gleichnamigen Film von Mike Leigh im London des Jahres 1950 mit einfachsten Mitteln illegal Abtreibungen vor. Niemand in der Familie der älteren Frau ahnt etwas von ihren Aktivitäten und als ihr Geheimnis durch Zufall ans Licht kommt und sie vor Gericht gestellt wird, wenden sich einige Familienmitglieder entsetzt von ihr ab. Leighs konventionell, aber handwerklich perfekt erzählter Film, der, zur Blamage des Cannes Filmfestivals, das diesen Film abgelehnt hatte, in Venedig den Goldenen Löwen erhielt, ist von tiefer Menschlichkeit getragen und besticht mit einer großartigen Imelda Staunton, die für ihre Darstellung der Titelfigur einen Coppa Volpi, den Preis für die Beste Darstellerin, erhielt. Toleranz und Menschenwürde
Le chiavi di casa (Hausschlüssel) von Gianni Amelio, der eindeutig beste der drei italienischen Beiträge im Wettbewerb, ging wider Erwarten zwar leer aus, erhielt aber zumindest mehrere Nebenpreise von anderen Jurys, darunter einen Darstellerpreis für den schwer behinderten Kim Rossi Stuart in der Hauptrolle. Erzählt wird die für beide Seiten schmerzhafte und von widerstreitenden Gefühlen getragene, langsame Annäherung von Vater und Sohn: Nach dem Tod seiner Frau bei der Geburt wollte Gianni seinen behinderten Sohn Paolo nicht einmal sehen. Fünfzehn Jahre später begegnen sich die beiden zum ersten Mal, weil Gianni Paolo in eine Berliner Rehabilitationsklinik begleiten muss. Während der Vater zunächst nicht weiß, wie er sich gegenüber dem Sohn verhalten soll, den er bisher verleugnete, möchte Paolo endlich nicht nur körperlich besser betreut werden. Auf einer gemeinsamen Reise nach Norwegen malen sie sich eine gemeinsame Zukunft aus. – Eine weitere menschliche Leidensgeschichte entwickelte sich zum Publikumsfavoriten und erhielt sowohl den Preis der Jury wie einen Coppa Volpi, den Preis für den Besten Darsteller, für Julio Medem. In
Das Meer in mir von Alejandro Amenabar beeindruckt Medem in der Rolle des nach einem Badeunfall querschnittgelähmten und seit 30 Jahren bettlägerigen Ramón. Beide Filme handeln von der Würde des Menschen, aber während Amelio das Recht auf Leben unterstreicht, plädiert Amenabar in seiner weit gehend authentischen Geschichte auf das Recht zum Sterben. Ramón wurde in den vielen Jahren seines Siechtums von Familienangehörigen liebevoll und unter großen persönlichen Opfern gepflegt. Doch nun möchte er in Würde sterben und da ihm dies nicht ohne fremde Hilfe gelingt, klagt er vor Gericht auf dieses Recht, das ihm aber verweigert wird.
Sag-haye velgard
Vor und nach dem 11. September
Der deutsche Wettbewerbsbeitrag
Land of Plenty (Land des Überflusses) von Wim Wenders musste sich zwar mit einem kleinen Nebenpreis zufrieden geben, hätte aber durchaus etwas Anerkennung verdient. Wenders zeigt die Schattenseiten der superreichen USA: desolate Wohngegenden, die Slums der Armen, Obdachlose auf den Straßen, den privaten Initiativen überlassenen Versuch, dem armen Teil der Bevölkerung zu helfen. Aber es bleibt zum Glück nicht bei dieser Nabelschau eines Fremden auf ein fremdes Land. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen vielmehr zwei US-Amerikaner/innen, die von ganz unterschiedlichen Erfahrungen geprägt sind und auf ihre Weise ihrem Land helfen möchten. Der Vietnamkriegsveteran Paul wittert nach den Anschlägen vom 11. September überall nur noch Gefahr und Bedrohung; jede/r könnte ein Feind sein. Mit einem technisch aufgerüsteten Kleinbus ist Paul Tag und Nacht unterwegs, um Verdächtige zu überwachen. Seine Nichte Lana, die nach vielen Jahren im Ausland gerade wieder in die Heimat zurückgekehrt ist, sieht die Welt dagegen idealistischer. Offen und ohne Misstrauen geht sie auf andere zu, versucht ihnen nach Möglichkeit zu helfen. Ihre gegensätzliche Weltsicht wird einer harten Probe unterzogen, als ein von Paul Verdächtigter im Kugelhagel stirbt und Lana ihm ein ordentliches Begräbnis verschaffen möchte. – Im direkten Vergleich fällt der in der Reihe "Orrizonti" präsentierte Film
The Hamburg Cell von Antonia Bird weit ab. Gestützt auf die detaillierten Untersuchungsergebnisse der Ermittler versucht Bird, die Vorbereitung auf die Attentate vom 11. September rein dokumentarisch und ohne jegliche filmische Reflexion nachzuerzählen. Aber das meiste davon ist bereits durch Veröffentlichungen bekannt und die Fragen, warum intelligente junge Männer ihre Gesinnung von einem Tag auf den anderen änderten und was wirklich in ihren Köpfen vorgegangen sein mag, werden nicht einmal ansatzweise beantwortet.
Kinder des Krieges
Während sich im Kaukasus das Geiseldrama von Beslan ereignete, liefen auf dem Festival drei Filme über durch Kriegseinwirkungen heimatlos gewordene Kinder. Der Wettbewerbsbeitrag
Sag-haye velgard (Kleine Diebe) von Marziyeh Meshkini, der Frau des bekannten iranischen Filmemachers Moysen Makhmalbaf, erzählt vom Überlebenskampf zweier auf der Straße in Afghanistan lebender Geschwister nach dem Krieg. Der Vater sitzt als ehemaliger Talibankämpfer im Gefängnis, zuvor wurde die Mutter vom Vater ins Gefängnis gebracht, weil sie in der fünfjährigen Abwesenheit des Ehemannes erneut geheiratet hatte, um ihre Kinder ernähren zu können. Nun fühlt sich niemand für die Kinder zuständig und erschwerend kommt hinzu, dass eines von ihnen ein Mädchen ist. Als die beiden im Kino Vittorio de Sicas Filmklassiker
Fahrraddiebe sehen, fassen sie den Entschluss, ein Fahrrad zu stehlen, um wenigstens als Diebe ins Gefängnis zur Mutter zu kommen. –
Letters to Ali von Clara Law lief in der Reihe "Cinema Digitale" und ist die sehr persönlich gehaltene Dokumentation des Versuchs einer jüdischen Familie in Australien, einem Jungen in einem dortigen Flüchtlingslager zu helfen, der aus Afghanistan geflohen war und seit zwei Jahren ohne jegliche Rechte in einem Hochsicherheitstrakt gefangen gehalten wird. – Der Dokumentarfilm
The 3 Rooms of Melancholia in der Reihe "Orrizonti" der finnischen Filmemacherin Pirjo Honkasalo (Preis der Menschenrechte) zeigt vor dem Hintergrund des Krieges in Tschetschenien, welche Auswirkungen Kriegserlebnisse auf kindliche Seelen haben und wie der Hass der Erwachsenen in ihnen einen guten Nährboden findet: In der Kadettenschule von Kronstadt werden neun- bis 14-jährige Jungen, die häufig aus zerstörten Familien stammen, militärisch ausgebildet. In der fast vollkommen zerstörten Hauptstadt von Grosny rettet eine Frau Kinder aus den Ruinen und direkt hinter der Grenze erleben Kinder in einem Flüchtlingslager den Krieg noch als permanente Bedrohung.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006