"Denn wir waren wirklich jeder ein 'mensch'". David Rashevski, der diesen Satz am Grab seiner Mutter spricht, folgt dabei einer inneren Stimme. Danach weiß er nicht mehr weiter und bittet Onkel Dolfo, das Wort "mensch" zu erklären. Der tritt vor und meint, es sei ein jiddisches Wort, aber die Thora kenne kein Jiddisch, und so weiß auch er nicht weiter. Was mit diesem Wort nicht näher definiert über der Trauergemeinde steht, umschreibt eine ideale Form des menschlichen Zusammenlebens und ist zugleich das zentrale Thema des Films. Vor dem Hintergrund einer jüdischen Familiengeschichte geht es um das Recht eines jeden Menschen auf seine eigene Wahrheit. Quelle dieser Wahrheit kann die Tradition bzw. die Religion sein, sie wird von der Liebe gespeist oder sie erwächst aus einer erfüllenden Aufgabe. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass man sich als "mensch" fühlen kann, ist letztendlich die Fähigkeit zur Toleranz dem anderen gegenüber.
Ein Testament und seine Folgen
Großmutter Rosa ist die Klammer, die die unterschiedlichen Charaktere der Pariser Familie Rashevski zusammenhält. Als sie im Sterben liegt, fährt ihr Schwager Dolfo nach Israel, um dort seinen Bruder, Rosas einstigen Ehemann Shmouel, zu einem versöhnenden Gespräch nach Frankreich zu bitten. Shmouel, der sich früher Sammy nannte, war nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel ausgewandert und hatte sich dort zu einem strenggläubigen Rabbi entwickelt, während Rosa und Dolfo ihre schrecklichen Erlebnisse mehr auf weltliche Art zu verarbeiten suchten: Dolfo blieb bis ins hohe Alter ein großherziger Charmeur und Rosa hatte für sich den Tango als Lebensbrücke gefunden. Für ihre Kinder und Kindeskinder waren sie so zu Leitfiguren geworden. Als der orthodoxe Rabbi eine letzte Begegnung mit seiner einstigen Frau schroff ablehnt, kehrt Dolfo zornig nach Hause zurück; Rosa ist inzwischen verstorben. Zum Erstaunen ihrer Kinder und Enkel hatte die weltoffene Frau für sich eine Grabstelle auf dem jüdischen Teil des Friedhofs reserviert. Das verlangt von den Hinterbliebenen die Wahrung der traditionellen Bestattungsriten. Was zunächst wie eine reine Formalität aussieht, führt bei allen Beteiligten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln und besonders die Jüngeren müssen nun eine eigenständige Orientierung finden.
Die Widersprüche des Lebens
Der Film macht die Sinnsuche seiner Protagonisten/innen an geschickt verwobenen kleinen Episoden fest, in denen jeweils existenzielle Fragen im Mittelpunkt stehen. Jede der Geschichten steht für sich selbst und doch sind alle – orientiert an der Frage nach dem "mensch"-Sein – zu einer einzigen Parabel verbunden. Regisseur Sam Garbarski spitzt sein Porträt einer Familie über zahlreiche Paradoxien zu: Die Nichtjüdin Isabelle kennt die jüdischen Bräuche und Traditionen besser als alle anderen Mitglieder der Familie und doch fühlt sie sich stets ausgeschlossen. Der Enkel Ric, der in der israelischen Armee gedient und gegen die Palästinenser gekämpft hat, heiratet eine Araberin nach marokkanischem Brauch. Enkelin Nina, als Tochter einer Nichtjüdin nach jüdischem Gesetz gar keine Jüdin, fühlt sich nach dem Tod der Großmutter geradezu besessen zu der traditionellen jüdischen Religion hingezogen und aus Liebe zu ihr konvertiert der Nichtjude Antoine zum orthodoxen Glauben. Rosas Tod zwingt schließlich auch die Brüder Dolfo und Shmouel zur Auseinandersetzung mit ihrem Leben und lange Verdrängtem. Der eine hat für die Religion Frau und Kinder verlassen, der andere hat den Glauben aufgegeben, wurde aber für die Familie zu einem wunderbaren Ersatzvater. Beide sind letztendlich in der Liebe zu Rosa gescheitert. Shmouel hat sich den weltlichen Gefühlen verweigert und Dolfo brachte nie den Mut auf, seine Leidenschaft zu gestehen, wenngleich der gemeinsame Tango einen schwachen Trost für ihn darstellte.
Ein visuelles Gleichnis
Alle Figuren werden zwar in ihrem jeweiligen Selbstverständnis gebrochen, sie zerbrechen aber nicht daran, im Gegenteil: Erst indem sie sich zu ihren Schwächen und Defiziten bekennen und um eine individuelle Haltung zu ihren Wurzeln und Traditionen ringen, finden sie zu jener Größe, die den "mensch" ausmacht. Bis hin zu Zwischentiteln im Film übernimmt Regisseur Sam Garbarski eine klassische Dramenstruktur. Wie "Alles auf Zucker" steht auch dieser Film in der Tradition von Lessings "Nathan der Weise". Doch hier wird die Botschaft der Toleranz nicht in erster Linie über die Worte vermittelt, sondern der Regisseur findet dafür wunderbare visuelle Gleichnisse. Geschickt versteht er es zudem, sein Anliegen mit dem aus dem jiddischen Städele kommenden Humor zu verbinden. Es sind nicht zuletzt die damit verbundenen feinen ironischen Zwischentöne, die dem Film seine Tiefe geben und ihn zusammen mit den prägnanten Bildern und der sensiblen Inszenierung zu einem wunderbaren Erlebnis werden lassen.
Autor/in: Klaus-Dieter Felsmann, 01.01.2005