Venedig 2005 – 62. mostra internationale d'arte cinematografica
Good Night, and Good Luck
Der Tradition der norditalienischen Lagunenstadt entsprechend wird auf dem renommierten Filmkunstfestival in Venedig jeweils ein Goldener Löwe als Hauptpreis vergeben. Im animierten Festivaltrailer der 62. Ausgabe, der sich durch höchst eigenwilligen Humor und morbide Anspielungen auszeichnete und vermutlich nur von wenigen verstanden wurde, greift ein Löwe am Ende in einen Fernseher und holt aus dem zerstörten Kasten eine Dose mit der Aufschrift des Festivals heraus. Das lässt die Interpretation zu, dem TV-Medium müssten die Filmkunstwerke nun fast schon mit Gewalt entrissen werden, um sie zurück auf die Leinwand zu holen und aus passiven Filmkonsumenten aktive Kinogänger zu machen . Unter ähnlich kämpferischen Vorzeichen hat Festivalleiter Marco Müller ein anspruchsvolles und vielschichtiges Programm zusammengestellt, das die große Bandbreite der zeitgenössischen Filmkunst reflektiert.
Brokeback Mountain
Politisches Qualitätskino
Einer der ersten Filme im Wettbewerb blieb bei Kritik und Publikum bis zum Ende der Favorit für den Hauptpreis, gewann dann allerdings nur für das beste Drehbuch und für den besten Darsteller David Starhairn.
Good Night, and Good Luck von George Clooney blendet in strengen und atmosphärisch dichten Schwarzweißbildern zurück in das Jahr 1953, als das amerikanische Fernsehen noch in den Kinderschuhen steckte und Senator McCarthy im Zeitalter des Kalten Kriegs hinter jeder kritischen Haltung im Land kommunistische Umtriebe witterte. Eine der wenigen Persönlichkeiten, die in diesem restriktiven Klima noch Zivilcourage zeigten und die Lügen des Senators aufzudecken versuchten, war Edward R. Murrow, der Chef einer populären Nachrichtensendung der CBS. Überdeutlich zieht Regisseur Clooney Parallelen zur Gegenwart, zumal die amerikanischen Medien inzwischen begonnen haben, ihre affirmativ unkritische Haltung gegenüber der Politik von George W. Bush aufzugeben. Der überzeugend und ohne Pathos gespielte Film ist zugleich Loblied auf die Freiheit der Presse und Mahnung, für diese Freiheit auch immer wieder kämpfen zu müssen. – Ebenfalls in die Vergangenheit blickt Philippe Garrel in
Les Amants réguliers (Normale Liebende), eine vor allem durch die ausgezeichnete Kameraarbeit von William Lubtchansky sehenswerte Auseinandersetzung mit den Studentenunruhen der späten 1960er-Jahre in Paris. Der Film erhielt den Preis für die beste Regie. Die aus der zeitlichen und räumlichen Distanz heraus beobachtende Kamera folgt in ruhigen langen Schwarzweiß-Einstellungen einigen jungen Menschen von ihrem enthusiastischen und zugleich gewalttätigen Widerstand gegen das alte Establishment über ihren schleichenden Rückzug in die Privatsphäre und in individuelle Liebesabenteuer bis zu Drogenexperimenten der einen und dem Wegzug der anderen aus Paris. Garrels kritische Reminiszenz an das Scheitern der Linken und den Verrat an ihren Idealen führt inhaltlich kaum noch zu neuen Erkenntnissen, ist dennoch ein brillant gefilmtes Zeitdokument. – Einer der wenigen, die aktuelle politische Themen unmittelbar aufgriffen, war der brasilianische Filmemacher Fernando Meirelles mit seinem in Afrika gedrehten Thriller
Der ewige Gärtner . Ein bisher angepasst lebender britischer Diplomat in Kenia versucht auf eigene Faust und gegen den Widerstand der weißen Oberschicht den gewaltsamen Tod seiner jungen Frau aufzuklären. Diese hatte aufgedeckt, dass die internationale Pharmaindustrie unter dem Vorwand, humanitäre Hilfe zu leisten, die schwarze Bevölkerung als Versuchskaninchen für neue Medikamente benutzte. Meirelles Anklage gegen neokolonialistische Praktiken der reichen Industrienationen ist zugleich eine Liebeserklärung an den ausgebeuteten Kontinent.
La bestia nel cuore
Romantisch gefärbte Publikumsfilme
Andere Regisseure waren weniger an historischer Erinnerungsarbeit oder gesellschaftlichen Analysen interessiert, als vielmehr daran, alten Mythen und Träumen neue Sichtweisen abzugewinnen. Für seine einfühlsame Entmystifizierung des ungebundenen Cowboy-Lebens
Brokeback Mountain gewann der in Taiwan geborene und seit vielen Jahren in den USA lebende Regisseur Ang Lee den "Goldenen Löwen”. Der Film erzählt die Geschichte zweier wortkarger Männer, die in den Bergen von Wyoming einen Job als Schäfer antreten und sich in der rauen Bergwelt langsam auch körperlich näher kommen. Als sie sich Jahre später erneut begegnen und beide schon jeweils eine Familie gegründet haben, entdecken sie ihre Gefühle füreinander erneut, können sie aber nicht wirklich leben, was sie selbst und ihre Familien in eine schwere Krise stürzt. Das sensible Porträt einer unmöglichen Liebe kommt nahezu ohne Klischees aus und stellt gängige Vorstellungen der Amerikaner über den typischen Westener der Gründerjahre und den neueren Traum von einer heilen Familie gleichermaßen auf den Kopf. Nach diesem Film wird man wohl jeden Western, jede Reklame über männliche Freiheit und Abenteuerdrang mit anderen Augen sehen müssen. – Wenig romantisch ist zunächst auch das Familienleben des New Yorker Stahlarbeiters Nick in John Turturros musikalischer Liebesgeschichte
Romance & Cigarettes . Seiner vielen Affären wegen wird Nick von seiner Frau und seinen drei Töchtern heftig kritisiert. Jedes Mal, wenn die Hauptfiguren in einer ausweglosen Lage sind, retten sie sich mit einem Lied in eine andere Realität. Inhaltlich verbindet sich Turturros Film mit dem von Ang Lee durch den Traum der Figuren von einem besseren Leben, formal allerdings könnten die Filme nicht unterschiedlicher sein. Turturro inszenierte seine romantische Geschichte laut und lärmend, mit brillanten Regieeinfällen und etwa einer exzellenten Susan Sarandon in der Rolle von Nicks Ehefrau. Manchmal werden die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, aber immer bleibt alles Kunstprodukt und ohne nachhaltige Wirkung. – Lasse Hallström wiederum entpuppt sich in seiner eigenwilligen Adaption der Lebensgeschichte des berühmt-berüchtigten venezianischen Frauenhelden
Casanova noch als Romantiker der alten Schule. Der außer Konkurrenz gezeigte Film gewinnt dem Mythos neue Seiten ab, weil sich die Geschichte unerwartet aus dem historisch überlieferten Kontext löst und zu einer liebenswerten, fast zeitlosen Romanze über eine wahre Liebe wird, in der unzweideutig emanzipatorische Elemente eingewoben sind und der humorlosen Obrigkeit ein Schnippchen nach dem anderen geschlagen wird.
Sympathy for Lady Vengeance
Italienische Wettbewerbsbeiträge
Venedig ist für die italienische Filmindustrie ein begehrter Ort der Selbstdarstellung. Dieses Zugeständnis hatte auch Marco Müller zu machen, der gleich drei Wettbewerbsbeiträge aus Italien einlud. Dabei hätte man gut auf I giorni dell'abbandono (Die Tage nach der Trennung) von Roberto Faenza verzichten können, das gut gemeinte, in der Hauptrolle gar nicht mal schlecht gespielte Drama einer Mutter, die nach vielen Jahren gemeinsamer Ehe von ihrem Mann plötzlich verlassen wird und sich mit dieser Situation nicht abfinden kann. Doch das Drehbuch und die Dialoge haben unübersehbare Schwächen, was die tragische Geschichte manchmal unfreiwillig komisch macht. – Weitaus stimmiger ist da schon La seconda notte di Nozze (Die zweite Hochzeitsnacht) von Pupi Avati, der die italienische Nachkriegszeit in poetischen und geschönten Bildern in Erinnerung ruft, als sich soziale und ideologische Unterschiede durch Toleranz und die Kraft der Liebe angeblich noch überwinden ließen und die Zukunft in jedem Fall etwas Besseres verhieß als die Vergangenheit. Durch den unerwarteten Besuch seiner verwitweten Schwägerin und seines Neffen aus der Großstadt ändert sich das Leben eines unscheinbaren Bauern und Minenräumers, der nun alles riskiert, um seine große Liebe zu erobern. – Zweifelsfrei der überzeugendste und brisanteste italienische Film stammt von Cristina Comencini, die in La bestia nel cuore (Erzähl es nicht!) stimmig und differenziert von sexuellem Missbrauch erzählt und zeigt, wie dieses traumatische Erlebnis sich dramatisch auf das spätere Leben der Betroffenen, ihre Beziehungen und sogar das ihrer eigenen Kinder auswirkt. Hauptdarstellerin Giovanna Mezzogiorno erhielt für ihre Rolle einer Frau, die während der Schwangerschaft von unerklärlichen Albträumen aus ihrer Kindheit heimgesucht wird und nach Antworten darauf sucht, den Preis als beste Darstellerin. Allerdings relativierte sich der Preis dadurch, indem die Jury die französische Charakterschauspielerin Isabelle Huppert zugleich für ihr Lebenswerk auszeichnete. Comencinis Film hebt sich von anderen mit ähnlicher Thematik ab, weil hier einmal überraschend ein Junge zum Hauptopfer des Missbrauchs wird, nicht nur die Rolle des Vaters, sondern auch die der Mutter kritisch beleuchtet wird und er trotz aller Pein einen Funken Hoffnung lässt, dass auch solche Traumata überwunden werden können, wenn man sich anderen öffnet und darüber redet.
La vida secreta de las palabras
Film im Film
Während Comencini ihr Sujet möglichst authentisch inszenierte und in einer Nebenhandlung solche aus dem Leben gegriffenen Geschichten mit der Künstlichkeit und Verlogenheit mancher TV-Serien vergleicht, versucht der Koreaner Park Chan-wok in Sympathy for Lady Vengeance ein emotional ähnlich heftiges Thema gerade mit den künstlerischen Mitteln des Kinos noch halbwegs erträglich zu machen. Eine junge Frau, die wegen des Mordes an einem entführten fünfjährigen Jungen mehrere Jahre in einem Jugendgefängnis verbrachte, rächt sich nach ihrer Entlassung an dem wahren Schuldigen, einem pädophilen Lehrer, und entdeckt, dass der Täter noch weitere Kinder auf dem Gewissen hat. Wie ein Mosaik und in vielen Rückblenden erschließt sich den Zuschauenden erst langsam die Motivation der Hauptfigur, bis die ganze Wahrheit auch für sie überraschend ans Licht kommt. Statt den Massenmörder aber der Polizei zu übergeben, präsentiert die Frau den geschockten Eltern die letzten vom Mörder jeweils auf Video aufgenommenen Minuten ihrer Kinder und fordert von ihnen gemeinsame Rache. Ein verstörender Film, der die Tiefen und Untiefen von Selbstjustiz aus zunächst nachvollziehbaren Rachemotiven auslotet. – Auch die Unterdrückten, Missachteten, Ignorierten, die Underdogs unserer Gesellschaft, dürften manchmal so ihre Rachefantasien entwickeln. Insbesondere das Genrekino bietet ihnen massenweise Bildvorlagen und Stereotype an, in denen sich ein Held gegen einen übermächtigen Gegner durchsetzt, dabei andere der Reihe nach beseitigt, ohne selbst verletzt zu werden. Den erheblichen Unterschied von Realität und Fiktion hierbei thematisiert der japanische Regisseur Takeski Kitano in seinem als Überraschungsfilm angekündigten und vom Publikum eher ratlos aufgenommenen neuen Werk Takeskis' . Kitano spielt darin sich selbst als erfolgreichen TV-Produzenten und Hauptdarsteller von Yakuza-Filmen, zugleich als unscheinbaren Doppelgänger des Promis, der von ständigem Pech verfolgt ist, seinem Vorbild nachzueifern sucht und schließlich auch das entsprechende Waffenarsenal in die Hände bekommt. – Abel Ferrara geht in Mary noch einen Schritt weiter in seiner Medienkritik und stellt vor dem Hintergrund christlicher Heilsgeschichte beziehungsweise der Neuverfilmung des Lebens von Christus durch einen eitlen, unabhängigen Filmemacher Fragen nach der Verantwortung der Medienschaffenden für ihre Werke und die Mitwirkenden sowie den Grad ihrer Spiritualität. Er erhielt dafür den Spezialpreis der Jury. So richtig vermag Ferrara mit seinen parallel erzählten Geschichten aus der spiritualisierten Medienwelt zwar nicht zu fesseln, andererseits lässt sein Film das auch noch in anderen Produktionen des Festivals thematisierte neue Bedürfnis der Figuren nach Sinnsuche und christlich inspirierter Sinngebung erkennen, um der Künstlichkeit und mitunter sogar Hohlheit ihres Alltags etwas entgegen zu setzen.
Sehenswertes Autorenkino
In Venedig haben neben amerikanischer Unterhaltungsware, internationalen Highlights und Werken aus einheimischer Produktion auch viele kleine, aber feine Autorenfilme einen festen Platz im Programm, beispielsweise
Attente (Warten), der neue Film des palästinensischen Filmemachers Rashid Masharawi. Auf der Suche nach geeigneten palästinensischen Schauspielern/innen für ein im Gazastreifen mit internationaler Finanzhilfe geplantes Nationaltheater reist ein Regisseur in mehrere Flüchtlingscamps in Jordanien, Syrien und dem Libanon. Während der Rohbau des Theaters von der israelischen Armee im Gazastreifen bombardiert wird und jede symbolische Hoffnung zunichte macht, gestaltet sich das tragikomische Casting unterwegs zum Sinnbild für die Situation des palästinensischen Volkes, das zum Warten verurteilt scheint. – Die argentinisch-spanische Produktion
El viento (Der Wind) von Eduardo Mignogna erzählt die unprätentiöse Geschichte eines alten Farmers in Patagonien, der nach dem Tod seiner Tochter seine Enkelin in Buenos Aires aufsucht. Diese hat sich von ihrer Herkunftsfamilie weitgehend abgenabelt, weil ihr der leibliche Vater immer verschwiegen wurde. In der behutsamen Annäherung der beiden Verwandten kommt schließlich ein altes Familiendrama ans Licht, das frischen Wind in das Leben aller Beteiligten bringt. –Einer der beeindruckendsten Filme des Festivals war vielleicht
La vida secreta de las palabras (Das geheime Leben der Worte) von Isabel Coixet, der in der Reihe "Horizonte” lief. Eine geheimnisvolle junge Frau, die ihre monotone Arbeit in der Fabrik gewissenhaft erledigt, aber keine Beziehungen zu den anderen eingeht, entscheidet sich in ihrem Urlaub spontan, auf einer Bohrinsel im Atlantik einen nach einem Brandunfall schwer Verletzten zu pflegen. Zwischen den beiden Personen, die aus verschiedenen Gründen unter großen Schuldgefühlen leiden, entwickelt sich eine Art stillschweigende Übereinkunft, ohne dass die Frau ihr Geheimnis preisgibt. Nach seiner Genesung macht sich der Mann auf die Suche nach ihr und erkennt, dass seine äußeren Brandwunden nichts im Vergleich zu den inneren Wunden jener Frau sind, die Überlebende des Bosnienkriegs ist. Gerade weil der Film nicht auf äußere Dramatik setzt und seine eigentlichen Geschichten hinter den knappen Äußerungen der Protagonisten/innen lange Zeit verschweigt, wirkt er besonders eindringlich und macht etwas sinnlich nachvollziehbar, was allein mit Worten nicht zu vermitteln wäre.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006