In
Manderlay, dem zweiten Teil seiner "USA-Trilogie", führt Lars von Trier die Gangster-Tochter Grace Mulligan zu einer abgeschiedenen Baumwollplantage in Alabama. Man schreibt das Jahr 1933, aber hinter den hohen Toren Manderlays herrscht noch immer das Gesetz der Sklaverei. Entschlossen erhebt sich Grace zur Retterin der Unterdrückten.
Sklavenhaltergesellschaft
Wer die eigenwillige Idealistin Grace Mulligan bereits aus
Dogville (2003) kennt, weiß, wie unvermittelt sie sich in dem kleinen Bergdorf vom Unschulds- zum Racheengel wandelte. Nachdem der Mulligan-Clan Dogville verlassen hat, stößt man zufällig auf die Plantage Manderlay. Dort findet Grace eine Sklavenhaltergesellschaft vor, die in den USA bereits vor 70 Jahren von der Regierung Abraham Lincoln abgeschafft wurde. Nahtlos schließt
Manderlay ästhetisch und inhaltlich an den ersten Teil an, wenn auch in der Rolle der naiv-gefühlvollen Protagonistin jetzt anstelle von Nicole Kidman die junge Bryce Dallas Howard brilliert. Wie
Dogville spielt auch das Sequel auf einer karg dekorierten Theaterbühne, auf deren Boden mit schwarzen Kreidestrichen das Setting – Hütten, Hühnerstall oder Garten – skizziert ist.
Schwarz-weiße Klischees
Realistisch und durch das minimalistische Bühnenbild zugleich verfremdet, reflektiert Lars von Trier die unmenschliche Perfidie einer längst vergangen geglaubten rassistischen Unterdrückungspraxis. Mit Peitsche und Schrotflinte herrscht die weiße Greisin Mam über ein Dutzend zerlumpter schwarzer Leibeigener. Als Mam stirbt, hinterlässt sie das selbstverfasste Handbuch "Mam's Gesetz", das die Behandlung ihrer Untertanen nach bestimmten Kategorien festlegt. Abgestoßen und entsetzt kämpft Grace darum, das von ihrer Rasse verursachte Unrecht wiedergutzumachen. Voller Ironie entfaltet Regisseur Lars von Trier ein Verwirrspiel rassenspezifischer Klischees, von dem er auch seine Protagonistin nicht ausnimmt: Da verwechselt die selbstgerechte Idealistin die Brüder Jack und Jim "weil man doch Schwarze nicht auseinander halten kann", vergeht vor Verlangen nach dem schwarzen "Munsi"-Krieger Timothy, der sich schließlich als profaner "Mansi"-Betrüger entpuppt, und greift schließlich entnervt auf das von ihr verabscheute Gesetzesbüchlein zurück. Irgendwann muss Grace erkennen, dass sie selbst nach und nach in die verachtete Rolle der alten Mam geschlüpft ist.
Scheitern der liberalen Utopie
In blindem Aktionismus, ungeachtet der Skepsis, die der alte Haussklave Wilhelm mit seiner Frage durchklingen lässt: "Wir Sklaven essen auf Manderlay um sieben Uhr zu Abend. Wann essen die Leute, wenn sie frei sind?", hat Grace die Unterdrückten befreit und ihnen die Plantage übereignet. Inspiriert von ihrem simplen Rechtsbewusstsein, flankiert von den bewaffneten Gangstern ihres Vaters, verwandelt die energische Frau Manderlay in ein demokratisches Miniterritorium, in dem selbst über die Uhrzeit per Abstimmungsbeschluss entschieden wird. Doch schnell verselbstständigt sich das demokratische Experiment. Der liberale Utopismus der verwirrten Grace scheitert an der harten Realität und der Korrumpierbarkeit der Menschen. Eine Hungersnot folgt der dilettantischen Bewirtschaftung der Baumwollplantage, und als die alte Wilma einem schwer kranken Kind das Essen stiehlt, beschließt die Gemeinschaft ihren Tod. Langsam nähert sich die Kamera der tränenüberströmten Grace, die verzweifelt das Urteil vollstreckt. Filmisch dicht löst von Trier die Geschlossenheit des Bühnen-Settings geschickt durch ständig wechselnde Einstellungsgrößen und eine bewegliche Handkamera auf.
Idealismus versus Realismus
Schließlich entscheiden sich die Schwarzen gegen die neue Freiheit und für die Sicherheit einer geregelten Unterdrückung. Wieder ist es Wilhelm, der zusammenfasst, was Graces naiver Idealismus angerichtet hat: "Amerika war vor siebzig Jahren nicht bereit, uns Neger als Gleiche willkommen zu heißen und ist es immer noch nicht." Am Ende findet sich die Protagonistin als Gefangene der eigenen Befreiungsaktion wieder. Um zu entkommen, muss sie sich der Mittel bedienen, die sie am meisten verabscheut.
Eine gesellschaftspolitische Parabel
Ganz im Stile Berthold Brechts exponiert Lars von Trier die Ereignisse dieses minimalistischen Kammerspiels als Experiment, ironisch und fabulierend kommentiert von einer allwissenden Erzählerstimme im Off. Das Ergebnis ist zweifelsohne provokant. Zynisch und eindringlich demontiert
Manderlay gesellschaftliche Stereotypen, führt die "gut gemeinte" Bevormundung der Schwarzen durch die Weißen ad absurdum und stellt demokratische Ideale auf den Kopf. Weit mehr als ein kontroverses Pamphlet über Rassenunterdrückung ist
Manderlay zugleich eine gesellschaftspolitische Parabel über US-amerikanisches Rechts- und Sendungsbewusstsein. Lars von Trier selbst räumte die Möglichkeit ein, seinen Film in direktem Bezug zur gegenwärtigen politischen Entwicklung und dem Irak-Krieg zu sehen. Trotz des moralischen Zeigefingers gelingt es dem Film, einen globalen Blick auf das Zusammenspiel von Demokratie und Willkür, Ideal und Realität zu werfen.
Manderlay überzeugt als nuancierte Fortsetzung von
Dogville und so darf der letzte Teil der USA-Trilogie,
Washington, der wahrscheinlich 2007 in die Kinos kommt, mit Spannung erwartet werden.
Autor/in: Ula Brunner, 01.11.2005