Ben X basiert auf ihrem eigenen Jugendroman "Nichts war alles, was er sagte". Wie kamen Sie auf die Idee, eine Geschichte über einen autistischen Jungen zu schreiben?
Wie heißt es so schön: Die Story findet dich! Ich bin eigentlich Filmkritiker, aber man hat mich aufgefordert, ein Buch für junge Leute zu schreiben, die nicht gerne lesen. Kaum hatte ich zugestimmt, las ich in der Zeitung einen Bericht, über einen 17-jährigen Autisten, der durch Mobbing in den Selbstmord getrieben wurde. In einem Interview sagte seine Mutter, dass nichts sie trösten könne. Ich konnte das gut nachvollziehen, ich bin ja selber Vater. Aber ich dachte, vielleicht kann ich etwas schreiben, das dieser Familie zwar keinen Trost aber zumindest Verständnis bietet.
Inwiefern mussten Sie die Buchvorlage für das Drehbuch verändern?
Ich dachte, wenn viele Jugendliche nicht lesen, dann gehen sie vielleicht gerne ins Kino. Also legte ich das Buch bereits ähnlich wie ein Drehbuch an, mit mehreren Akten und vielen Plotveränderungen. Dann haben wir zunächst eine Theaterfassung erarbeitet, in der wir auch das ganze Multimedia-Setting etablierten. Der Film hat sich aus Buch und Theaterstück entwickelt und eigentlich ist die Geschichte jedes Mal besser geworden.
Sie sagten, Sie wurden aufgefordert, ein Buch für junge Leute zu schreiben, die nicht lesen. Ist Ihnen das gelungen?
Das Buch erschien 2002 und stieß gleich auf gute Resonanz. Eltern kamen zu mir und waren begeistert: "Mein Sohn hat tatsächlich ein Buch zu Ende gelesen und es hat ihm sogar gefallen". Viele haben den Roman aber auch jetzt erst gekauft, nachdem sie den Film gesehen hatten. Der Text ist sehr kurz, nur 94 Seiten lang, wirklich das Richtige für Leute, die nicht gerne lesen. Ich wollte etwas schreiben, das Rock 'n' Roll hat, aber auch eine gewisse Reife. Ich wollte einfach eine gute Geschichte erzählen.
Warum haben Sie für ein zeitgenössisches Coming of Age-Thema ausgerechnet einen Protagonisten gewählt, der an einer sehr speziellen Krankheit leidet?
Im Film ist Autismus ein Symbol, eine Allegorie für Menschen, denen es schwer fällt, sich sozialen Codes unterzuordnen. Die meisten von uns wissen gar nicht, was Autismus bedeutet; wir denken dabei an
Rain Main. Es gibt aber ein großes Spektrum verschiedener Schweregrade dieser Krankheit. Autismus kommt gar nicht so selten vor und es ist wichtig, die Probleme betroffener Menschen zu verstehen. Nur dann können wir ihnen helfen. Typisch für alle Autisten ist jedoch, dass sie blind sind für soziale Codes. Es fällt ihnen schwer zu entziffern, was zum Beispiel ein Lächeln alles bedeuten kann.
Ihr Film ist durchzogen von religiösen Analogien, der Schlussakt spielt in der Schulkappelle. Ist Ben eine moderne Erlöserfigur?
Im Buch und im Theaterstück fand der Schlussakt im Krematorium statt. Ein Freund schlug vor, die Szene in die Schulkirche zu verlegen. Und dann dachte ich, das ist doch eine tolle Idee, den Bezug zur Passion Christi herzustellen. Christus wurde auch gemobbt, war ein Außenseiter und musste dafür mit seinem Tod bezahlen. Ben ist keine religiöse Figur, aber die Analogie zum Christentum macht eine moderne Geschichte klassisch.
Der obsessive Umgang von Jugendlichen mit Videospielen wird ja in der öffentlichen Diskussion meist problematisiert. Ihr Film betont jedoch die positiven Möglichkeiten.
Natürlich spielt in vielen Videospielen Gewalt eine Rolle, das ist richtig. Aber es gibt natürlich auch interaktive Computerspiele, durch die man mit Millionen anderer junger Menschen weltweit in Kontakt kommt. Das ist ungeheuer faszinierend, hier existiert die Möglichkeit sich kennen zu lernen, sich anzufreunden, auch wenn das vielleicht ein bisschen romantisiert klingt. Für Menschen mit Autismus sind solche Computerspiele oft eine Rettung, denn die Kommunikation ist rein verbal, alles ist so gemeint, wie es da steht. Ironie wird durch ein Smiley ausgedrückt. In der wirklichen Welt kommt es darauf an, wie und in welchem sozialen Kontext etwas gesagt wird.
In Comics und ihren Leinwandadaptionen sind X-Men Superhelden bzw. Mutanten. Spielt darauf das "X" im Filmtitel an?
Ja, aber es ist zugleich ein Wortspiel: Auf flämisch bedeutet "Ben X" in Lautschrift soviel wie "Ich bin nichts". Aber "X" meint auch: Ende der Partie, abgeschlossen. Und dann steht "X" für das Mysteriöse, Unbekannte. Das will Ben auch für Scarlite, seine Freundin aus dem Cyberspace, bleiben.
Manche Szenen von Ben X spielen in der Welt von Archlord, einem real existierenden Computerspiel. Ist das nicht versteckte Werbung?
Wir mussten ein echtes Spiel nehmen, anders wäre es vom Budget her nicht realisierbar gewesen. Ich bin auch ein bisschen stolz auf das, was wir da auf die Beine gestellt haben: Vier bis fünf Spieler saßen am Computer, ich sagte Action und jeder spielte seine Rolle, aber nicht auf einem realen, sondern einem virtuellen Filmset. Wir konnten mit der Kamera unglaubliche Dinge machen, die Schauspieler waren gratis, es regnete nie, es war der Traum eines jeden Filmemachers! Wir mussten unserem Publikum ja etwas bieten, gerade junge Leute haben schon so viele Special Effects gesehen, das musste auch irgendwie cool sein.
Ben X war 2007 der meistbesuchte flämische Film. Wie war die Reaktion des jungen Publikums?
Viele Jugendliche haben sich darin wiedergefunden. In den Schulen hat der Film das Wiederaufleben einer Diskussion über das Thema Mobbing provoziert. Mobbing ist schon so alltäglich, dass sich viele Schüler gar nicht mehr damit befassen wollen. Durch Ben X war es plötzlich cool darüber zu reden, man konnte sich ein bisschen besser hineinfühlen in die Betroffenen. Das, was der Film zeigt, ist ja nur ein Bruchteil von dem, was in der Realität geschieht.