Eine Seele retten
Matt
und müde kauert der Vater des 14-jährigen Abila auf dem Boden im Hinterraum seines kleinen Geschäfts. Nicht zum ersten Mal sieht der Junge seinen Vater in einem solchen Zustand. Doch dieses Mal ist es anders – ernster. Man habe ihm seine Seele geraubt, stammelt der Vater. Keinen Augenblick zögert Abila und rennt los. Hinaus in den Slum Kibera, den größten in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, um die Seele seines Vaters zu retten.
Abila rennt
Dass diese Szene in ihrer Dynamik an
Lola rennt (Deutschland 1998) von Tom Tykwer erinnert, ist kein Zufall, denn der deutsche Regisseur war maßgeblich an der Produktion von
Soul Boy beteiligt. Als Supervisor und Mentor unterstützte Tykwer das Filmprojekt, das im Rahmen eines Workshops der alternativen Produktionsfirma One Fine Day Films in Zusammenarbeit mit kenianischen Nachwuchsfilmern/innen und Laiendarstellern/innen unter der Regie von Hawa Essuman entstand. Die Handlung basiert auf einem Drehbuch des Autors und Journalisten Billy Kahora, der darin eine authentische Geschichte über das Aufwachsen und die Lebensbedingungen in Kenias größtem Slum beschreibt, eng verflochten mit einem Einblick in die afrikanische Mythologie.
Mythos und Alltag
Getrieben von der Angst um den Vater sucht der verantwortungsbewusste Abila zunächst seine Mutter auf. Doch diese nimmt seine Bedenken nicht allzu ernst. Von einem Bekannten erfährt Abila jedoch, dass sein Vater bei der Nyawawa gewesen sei, einer jener Geisterfrauen, wie sie aus den traditionellen Überlieferungen des Volks der Luo bekannt sind. Als seine Freundin Shiku ihm den Weg zu ihr weist, nimmt Abila all seinen Mut zusammen und fordert von der mysteriösen Frau die Herausgabe der Seele. Doch nur ein erwachsener Mann
kann den Vater retten – und so schickt die Nyawawa den Jungen zu einer Initiationsreise los, um bis zum Anbruch des nächsten Tages sieben Aufgaben zu bestehen. Ein Sonnensymbol wird ihn leiten. Bezeichnend für die afrikanische Erzählperspektive ist in
Soul Boy, wie fließend Mythos und Alltag ineinander übergehen. Wäre die Geschichte eines Seelendiebstahls in anderen Kulturen Stoff für einen Fantasyfilm, so ist sie hier realistisch eingebettet in die Lebenswelt der jungen Protagonisten/innen. Zwar könnte auch die Vorliebe des Vaters für Alkohol der Grund für seine schlechte Verfassung sein, doch ebenso glaubwürdig ist ein Fluch der Nyawawa. Diese Frau, die anstelle eines Fußes einen Huf hat, verbindet bereits mit ihrem Körper beide Aspekte, ist sowohl menschlich als auch mystisch und lebt dabei mitten im Slum. Die Aufgaben wiederum, die sie Abila stellt, erweisen sich als kleine Prüfungen im Alltag.
Die Geschichte einer Reise
Mit Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit setzt sich Abila auseinander, als er einem Dieb verzeiht; er muss sein traditionell geprägtes patriarchalisches Frauenbild in einem öffentlichen
Theaterspiel korrigieren und wird sich darüber bewusst, dass die reichen Weißen in Kenia nicht unbedingt glücklicher sind als die Slumbewohner/innen. Abila reift merklich in diesen verschiedenen Stationen einer Reise, die aus
Soul Boy so auch einen
Coming-of-Age-Film machen. Jede Prüfung verändert den Jungen, indem sie ihn sowohl zur Auseinandersetzung mit seinen Wertevorstellungen als auch zum praktischen Handeln zwingt, wenn er etwa dem weißen Mädchen Amy in letzter Sekunde das Leben rettet. So werden die Aufgaben der Nyawawa zu einer Bildungsreise, die Abila in die Welt der Erwachsenen einführt.
Der Slum als alltäglicher Lebensraum
Etwas holprig wirkt die Geschichte, weil sie diese sieben Aufgaben streng nacheinander abhakt und damit ein wenig an die Dramaturgie eines Computerspiels erinnert. Eine gewisse Dynamik bringt allerdings der lebhafte
Soundtrack aus treibenden afrikanischen (Trommel-)Rhythmen. Insgesamt bleibt jedoch die Inszenierung mit ihrer linearen
Montage und überwiegend
statischen Kameraeinstellungen überraschend konventionell und zeigt trotz der beteiligten jungen Filmemacher/innen kaum Lust am Experiment. So ist es weniger die ästhetische Umsetzung, die
Soul Boy zu einem interessanten Film macht, als vielmehr der Entstehungskontext, der einen Einblick in eine weitgehend unbekannte Film- und Erzählkultur eröffnet.
Zu der großen Stärke dieses Films zählt darüber hinaus, dass er das Leben in Kibera, wo schätzungsweise mehr als eine Million Menschen unterschiedlichster Ethnien leben, nicht aus der Außensicht betrachtet. Wird das Bild von Afrika in den Medien noch immer von der Berichterstattung über Katastrophen, Kriege und Krankheiten, über Hunger und Armut dominiert, so steht in
Soul Boy der normale Alltag im Mittelpunkt. Auch hier wird im Gespräch unter einigen Jugendlichen die Rivalität zwischen den Angehörigen unterschiedlicher afrikanischer Volksstämme deutlich, vor allem zwischen den Luo und den Kikuyu, denen Shiku angehört. Irgendwann fällt auch ein Schuss, und wenig später versammelt sich eine Menschenmenge um einen leblosen Körper. Geradezu unheimlich ist es, wie beiläufig und unspektakulär die Gewalt in
Soul Boy zu Tage tritt. Doch das Leben lässt sich nicht darauf reduzieren. Vielmehr ist der Film eine Einladung an nicht-afrikanische Zuschauer/innen, gemeinsam mit Abila und seiner Freundin Shiku durch Kibera zu streifen, und das Leben dort aus deren Augenhöhe zu erleben.
Autor/in: Stefan Stiletto, 02.11.2010
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