Fast 150 Jahre nach seinem Tod entspricht Abraham Lincoln (1809-1865) immer noch dem Ideal eines US-Präsidenten – ein Mann moralischer Integrität und zupackender Intelligenz, der das Land durch seine schwerste innere Krise führte. Um der historischen Figur persönlich näher zu kommen, beschränkt sich Regisseur Steven Spielberg in seinem
Biopic Lincoln auf einen äußerst engen Zeitraum: Zu Beginn des Jahres 1865, in den letzten vier Monaten seines Lebens, widmet der Präsident seine ganze Kraft dem wichtigsten Gesetzesvorhaben seiner Laufbahn. Die Abstimmung des 13. Verfassungszusatzes zur Abschaffung der Sklaverei soll einem moralischen Übel abhelfen und zugleich den Sezessionskrieg (1861-1965) zwischen den Nord- und Südstaaten friedlich beenden. Angesichts enormer Widerstände erweist sich der "große Emanzipator" als Meister politischer Kleinarbeit, der doch jederzeit mit seinem Vorhaben zu scheitern droht.
Ein Film der Worte
Über weite Strecken ein reiner Dialogfilm, bleibt das blutige Kriegsgeschehen auf wenige Szenen beschränkt. Auf eine einführende Kampfszene folgt sogleich das erste Gespräch, das der Präsident mit zwei afroamerikanischen Unionssoldaten führt. Während zwei weitere weiße Nordstaatenkämpfer ehrfürchtig seine Rede nach der Schlacht von Gettysburg rezitieren, erkundigen sich erstere – vermutlich zur Armee geflohene Sklaven – nach konkreten Beförderungsmöglichkeiten für Schwarze beim Militär. Immer wieder wird Lincoln, dessen große historische Reden im Film weitgehend ausgespart werden, die Frage nach den Früchten der Freiheit und der Notwendigkeit des Kampfes diskutieren. Mit idealistischen Bekundungen, etwa zur Gleichheit und Freiheit aller Amerikaner/innen, geht er allerdings sparsam um, denn auf dem politischen Parkett ist dieser Idealismus tödlich.
Zwischen Taktik und Diplomatie
Die Abschaffung der Sklaverei hat im Repräsentantenhaus, aber auch in der eigenen Partei und selbst im Kabinett nur wenige Anhänger. Lincoln selbst bezeichnet sie als "militärische Notwendigkeit" zur Schwächung des konföderierten Südens und damit zur Wiederherstellung der Union. Ein taktisches Manöver, denn die Vorstellung einer rechtlichen Gleichstellung der befreiten Sklaven/innen löst bei Lincolns Republikanern wie bei den konservativen Demokraten Ängste aus. Insbesondere ein schwarzes Wahlrecht gilt als Unding, dem der als Winkeladvokat geschmähte Jurist Lincoln listig Vorschub leiste. Zu den Gegnern gehört freilich auch der republikanische Abgeordnete Thaddeus Stevens, dem die Abolitionspolitik seines Parteifreundes nicht weit genug geht. Er bezichtigt den vorsichtigen Lincoln schon vor der Abstimmung der "Kapitulation".
Zurückgenommene Inszenierung
Die wortreichen Auseinandersetzungen im Parlament sowie in den Hinterzimmern des politischen Betriebs nehmen in
Lincoln breiten Raum ein. Dabei legt Spielberg großen Wert auf ausgefeilte Dialoge im historischen Sprachduktus, auch Ausstattung und Kostüme überzeugen durch Authentizität. Die
kammerspielartige Bildsprache bleibt zwar konventionell, fasziniert aber durch ihre Lichtsetzung, die – historischen Gemälden ähnlich – die zahlreichen Innenszenen reliefartig betont. Nur wenige, dafür pointierte
Kamerabewegungen zelebrieren den Austausch von Argumenten, den Fluss der Ideen. Auch die für den Blockbuster-Regisseur Spielberg typische Überhöhung durch pathetische
Musik findet sich nur stellenweise.
Lincoln als Politiker und Privatmensch
In zahlreichen Innenraumszenen gewährt der Film auch Einblicke in Lincolns problematisches Privatleben. Außerhalb des Hauses findet allein ein Streit zwischen Lincoln und seinem Sohn Robert anlässlich des Besuchs eines Lazaretts statt: Der Anblick verwundeter Soldaten bestärkt dessen Wunsch, selbst in den Krieg zu ziehen. Als Oberbefehlshaber der Armee und Vater lehnt Lincoln ab, doch im Dauerzwist mit seiner Ehefrau Mary zeigt er mehr Verständnis für das Anliegen des Sohnes, das einen wunden Punkt ihrer Ehe berührt: Beide haben bereits ein Kind verloren, das an Typhus starb. Diese privaten Impressionen, zu denen auch Lincolns Umgang mit einigen afroamerikanischen Hausangestellten gehört, dienen einer tieferen Charakterisierung der Titelfigur.
Der Kampf um Abgeordnete
Dramaturgisch und politisch bedeutsamer ist jedoch die Sicherung der Stimmenmehrheit zum Gesetzesvorhaben. Hierfür greift Lincoln zu nicht ganz legalen Mitteln: Um noch mindestens 20 Abgeordnete auf seine Seite zu ziehen, leisten seine Lobbymänner ganze Arbeit – auf den Straßen Washingtons wird hemmungslos mit versprochenen Posten gehandelt und wohl auch bestochen. In einem weiteren Manöver stoppt der Präsident eine konföderierte Friedensdelegation, denn ihre rechtzeitige Ankunft in Washington würde die Abstimmung im Repräsentantenhaus zum Scheitern bringen. Hier wie in einigen Dialogen zeigt der Film die Schattenseite eines Staatsmannes, der zum höheren Wohle des Landes – und wohl auch aus ethisch-moralischen Gründen – immer wieder das Recht beugt.
Blick hinter die Kulissen des Politgeschäfts
Mit
Lincoln will Spielberg das Denkmal keineswegs vom Sockel stoßen. Menschliche Schwächen und Manipulationen betonen im Gegenteil das politische Genie, das gerade in der politischen Kleinarbeit Übermenschliches leistet. Neben der von Daniel Day-Lewis eindrucksvoll dargestellten Hauptfigur steht daher der demokratische Prozess an sich im Vordergrund. Auch dessen Komplexität soll offenbar überwältigen, ist doch dem vom Pulitzer-Preisträger Tony Kushner verfassten Drehbuch nicht daran gelegen, die schwierigen Vorgänge und Argumentationslinien leicht verständlich zu bündeln. In den USA wird der Film bereits als Aufruf an Präsident Obama verstanden, die Probleme der Gegenwart ebenso beherzt anzugehen wie sein persönliches Vorbild. Nicht nur der erste afroamerikanische Präsident der Vereinigten Staaten, sondern das ganze Land hat Lincoln viel zu verdanken. Wie viel festen Willen, Geduld und Durchsetzungskraft nur ein einziges, wenn auch entscheidendes Gesetzesvorhaben erfordert, davon gibt dieser einmalige Blick hinter die politischen Kulissen einen umfassenden Eindruck.
Autor/in: Philipp Bühler, Filmpublizist und Autor von Filmheften der bpb, 09.01.2013
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