Obwohl Xavier Dolan in Interviews gerne betont, dass er keine klassische Filmausbildung genossen hat und nur wenige Filmklassiker kennt, finden sich in seinen Filmen zahlreiche Motive aus der Filmgeschichte.
Mommy weist schon aufgrund seiner emotional aufgeladenen und impulsiven Bildsprache starke Bezüge zum klassischen
Melodram auf – auch wenn Dolans Inszenierung alles andere als klassisch ist. Das Melodram der goldenen Hollywood-Ära bis zum Ende des Studiosystems in den 1950er-Jahren war eine Domäne großer Darstellerinnen wie Bette Davis, Joan Crawford oder Barbara Stanwyck. Da die zumeist tragischen Geschichten stark auf die Tränendrüse drückten und sich primär an ein weibliches Publikum richteten, wurde sie von der Kritik lange Zeit abfällig als „weepies“ (engl.: to weep = triefen, heulen) bezeichnet. Dennoch hat sich das Melodram immer wieder durch starke Mutterfiguren ausgezeichnet, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen arrangieren müssen.
Eine Frau unter Einfluss, (© Peripher)
In King Vidors Drama
Stella Dallas (USA 1937) spielt Barbara Stanwyck eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die ihre Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg auf ihre heranwachsende Tochter Laurel projiziert. Bis zur Selbstaufgabe treibt Stella die Hochzeitspläne der Tochter voran, ohne zu realisieren, dass ihr selbst die höheren Gesellschaftsschichten immer verschlossen bleiben. Aber aus bedingungsloser Mutterliebe ist sie sogar bereit, die eigene Tochter aufzugeben, damit Laurel ein besseres Leben als sie selbst führen kann. Die Figur der aufopferungsvoll liebenden Mutter, unterschwellig mit quasi-religiösen Motiven ausgestattet, gehört zu den Standards des klassischen Melodrams. In
Solange ein Herz schlägt (USA 1945) versetzt Michael Curtiz die Mutter-Tochter-Geschichte mit Elementen des Film Noir. Das überhitzte Melodram gipfelt in einem Mord, den die verzweifelte Mutter aus Liebe zu ihrer Tochter auf sich nimmt.
Alles über meine Mutter, (© Studiocanal)
Auch im aktuellen Kino begegnen uns immer wieder eindrucksvolle Mutterfiguren. Der spanische Regisseur Pedro Almódovar bezieht sich mit
Alles über meine Mutter (SP 1999) einerseits auf die expressiven Melodramen der klassischen Hollywood-Ära (Joseph L. Mankiewicz’
Alles über Eva von 1950) sowie auf Cassavetes’ psychologische Frauenporträts (
Die erste Vorstellung von 1977). Seine Widmung am Ende des Filmes lautet entsprechend: „Für Bette Davis, Gena Rowlands, Romy Schneider... Für alle Schauspielerinnen, die Schauspielerinnen gespielt haben, für alle Frauen, die (schau)spielen, für alle Männer, die (schau)spielen und zu Frauen werden, für alle Menschen, die Mutter sein wollen, für meine Mutter.“ Der rumänische Film
Mutter und Sohn (RU 2013) steht wiederum in der Tradition dominanter Mütter, die sich ihren sozialen Aufstieg (mitunter auf skrupellose Weise) erkämpfen. Regisseur Călin Peter Netzer liefert mit seinem Film eine Parabel auf die Korruption und soziale Kälte im postsozialistischen Rumänien und hat mit Luminița Gheorghiu eine Hauptdarstellerin vom Format einer Barbara Stanwyck.
Ein kurzer Streifzug durch die Geschichte des Melodrams veranschaulicht einige Themen aus Mommy: gesellschaftliche Rollenmodelle, Mutter-Kind-Bindungen und soziales Außenseitertum. Zudem lässt sich an diesen Beispielen noch einmal die expressive Inszenierung von Emotionen untersuchen, die Mommy zu einem so kraftvollen und bewegenden Film macht.
Autor/in: Andreas Busche, Kulturjournalist und Redakteur von Kinofenster, 07.11.2014
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