Einführung
Kinderfilme - Filme für Kinder?
"Ich glaube daran und unterstütze die Idee, dass wir Filme für Kinder machen müssen, in denen sie die Welt von ihrer lustigen wie von ihrer traurigen Seite kennen lernen. Den Standpunkt von Kindern in einer Welt der Erwachsenen zu zeigen, ist viel präziser und klarer, als jede Form von moralischer Erkenntnis, die ein 20-, 30- oder 40-jähriger Erwachsener haben könnte. Grundsätzlich sind die besten Filme, die je gemacht wurden, Filme mit Kindern, über Kinder und über Erwachsene aus der Sicht von Kindern, denn sie sind nicht spekulativ. Sie vermitteln ein wirkliches Bild von der Welt, so wie sie von den Kindern gesehen wird."
(Emir Kusturica, Giffoni 1996)
Die "kleine Gesellschaft" der Kinder ist für die Filmindustrie inzwischen eine ökonomisch relevante Zielgruppe geworden. Auf diese Weise gerät der Kinderfilm immer mehr zur Ware. Das bedeutet aber auch, dass Filminhalte nivelliert werden, um ein möglichst großes Publikum anzusprechen, und bestimmte Themen auf der Strecke bleiben. Der Kinobesuch von Kindern unter 13 Jahren steigt kontinuierlich, weit mehr als der von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der bisherigen Hauptgruppe der Kinogänger. Kinder sind schließlich auch das Kinopublikum von morgen. Was aber ist ein Film für Kinder? Filme, in denen Kinder mitspielen oder gar in einer Hauptrolle zu sehen sind? Filme mit Kindern sind nicht notwendigerweise für diese Zielgruppe gemacht. Es gibt zahlreiche Produktionen mit Kindern und Jugendlichen, die sich eigentlich nur an Erwachsene wenden.
Diese Themenausgabe richtet sich besonders an Multiplikatoren und Pädagogen. Dabei geht es mehr um den Sozialisationsfaktor Film für Kinder und um die frühzeitige Vermittlung von Werten und Einstellungen durch das Medium, als um das Genre des Kinderfilms im engeren Sinn oder speziell um Filme, die schon für die jüngsten Zuschauer unter dem Blickwinkel des Jugendschutzgesetzes von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ohne Altersbeschränkung freigegeben wurden. Solche Altersfreigaben können nur bedingt etwas darüber aussagen, welche Filme für welches Alter geeignet sind. Fälschlicherweise werden diese Altersfreigaben der FSK immer wieder mit Altersempfehlungen gleichgesetzt, – die beispielsweise verschiedene Jugendinstitutionen aussprechen – und Kinder geraten somit manchmal in die falschen Filme. Generell liegt das Problem auch darin, dass das Rezeptionsverhalten von Kindern von vielen Faktoren und nicht zuletzt von individueller Reife abhängt.
Welche Themen und Formen der Gestaltung aber sind für die jeweilige Altersstufe besonders geeignet, ohne gleich bewahrpädagogische Ambitionen zu verfolgen? Kinder sind eher leicht zu überfordern als zu unterfordern. Sie müssen (genauso wie die Erwachsenen!) auch nicht jeden Film gleich in allen seinen Dimensionen verstehen, sondern können über verschiedene Filme zum gleichen Thema kumulative Erfahrung erwerben. Bedeutsam für die Vermittlung von Werten und Einstellungen ist, dass es in vielen Filmen auch um Toleranz geht, um Konflikte, den Umgang mit Gefühlen, Einstellungen zur Familie, zu den Freunden, zur Gesellschaft. Filme erzählen von anderen Kulturen, Sitten und Gebräuchen; sie dienen zur Orientierung und zur Identitätsfindung.
Die Medienwelten von Kindern und Erwachsenen scheinen sich immer mehr anzugleichen: Auf der einen Seite besteht die Gefahr des "allmählichen Verschwindens der Kindheit" (Neil Postman), indem sich alle Tabus auflösen und alles jederzeit auch für Kinder verfügbar ist, andererseits zeigt sich eine umfassende Infantilisierung der Erwachsenen, entsteht eine "kindliche Gesellschaft" (Robert Bly). Der Entwicklungspsychologe David Elkind ist sogar der Meinung, dass Kinder heute schneller heranwachsen müssen (!), weil die Generation der Eltern in ihren Bedürfnissen immer kindlicher und kindischer werde und inzwischen selbst verzweifelt nach Orientierung und Zuneigung suche, die sie eigentlich den Kindern vermitteln sollten. Produktion und Rezeption von Kinderfilmen müssen heute vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gesehen werden. Wenn so manches Medienprodukt in Fernsehen und Film inzwischen infantiler als der einfältigste (und damit eindeutig schlechte!) Kinderfilm ist, welchen Sinn macht es dann noch, zwischen Filmen für Kinder und Filmen für Erwachsene zu unterscheiden – abgesehen aus Gründen des Jugendschutzes? Das Etikett 'Kinderfilm' kann inzwischen einen Film kommerziell bremsen, vor allem dann, wenn er seiner Intention nach ursprünglich gar nicht speziell für Kinder gedacht war. Die Tradition des Familienfilms ist in Deutschland gebrochen, nicht zuletzt weil amerikanische 'Familienfilme' in der Regel zu sehr auf den kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner abzielen.
Ganz bewusst werden zum Vergleich mit herkömmlichen 'Kinderfilmen' und zur Anregung für einen gemeinsamen Kinobesuch mit der Familie zwei Filme (Kolya; Mein Leben in Rosarot) in diese Themenausgabe aufgenommen, die sich explizit nicht als Kinderfilm verstehen, obwohl beide kindliche Bedürfnisse und Probleme ernstnehmen. Über das Medium Film werden Kinder und Jugendliche mit Werten, Strukturen und Verhaltensweisen konfrontiert, die sie prüfen, übernehmen oder ablehnen können. Die künftige Entwicklung der Gesellschaft hängt in erheblichem Maß davon ab, in welchem Lebensumfeld Kinder aufwachsen und welche Möglichkeiten sie bekommen, später als Erwachsene ihre Lebenswelt auch aktiv mitzugestalten, welche Ziele sie bei ihrer Lebensplanung verfolgen und mit welchen Mitteln sie diese zu erreichen suchen. Es ist daher nicht unerheblich, welche Inhalte in 'Kinderfilmen' und auch für Kinder geeigneten Filmen vermittelt werden und wie sie das 'Sehen' lernen
Autor/in: Holger Twele, 12.12.2006