Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte V: Das Unheimliche – Aspekte des Psychothrillers
Manchmal fallen die Schatten des Unheimlichen über das Assoziations-Feld von Wärme, Geborgenheit, Beschütztsein und Herkunft, das die Begriffe 'Heim' und 'Heimat' umgibt. Das Unheimliche ist das Unbekannte, Unerklärliche, das Andere, Bedrohliche, Grauenvolle. Einst stellten sich die Menschen vor, dass auf dem Zaun, dem Hag, der äußersten Grenze des Heims, die "Hagazussa" reite: die Hexe als Zwitter zwischen Zivilisation und Natur. 'Drinnen' waren Licht und Feuer, 'draußen' war die Dunkelheit, aus der Halbwesen wie Vampire oder Werwölfe den Binnenraum bedrohten. Auch die Verdrängung der Nacht durch die Elektrizität und die Überwindung der Unbegreiflichkeit von Natur durch Wissenschaft und Aufklärung konnten die uralten Ängste vor dem Unheimlichen nicht beenden. Denn Sigmund Freud hat dessen Kräfte im Menschen selbst ausfindig gemacht. Sogar die Psyche des Individuums ist nicht ausgeleuchtete Heimat, sondern erstreckt sich in dunkle Bereiche des Unbekannten und Gefährlichen.
Alle Künste des 19. und 20. Jahrhunderts haben das Unheimliche zum Thema gemacht – auch das Kino, das selbst ein Transit-Ort zwischen Licht und Schatten ist. Das Genre des Unheimlichen ist der Psycho-Thriller. Er entfaltet seinen Spannungsbogen zwischen dem Ausloten seelischer Abgründe und dem Einbruch einer oftmals unerklärlichen Bedrohung in den Bereich des (bürgerlichen) Heims. Das Resultat ist stets die Verunsicherung des Zuschauers, der Verlust seiner scheinbaren Geborgenheit in der Welt. Nach dem Erlebnis eines gelungenen Psychothrillers erscheint der Gang durch die Nacht als Abenteuer.
Max Macks deutscher Film Der Andere (1913) ist ein frühes Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Ungewissheit der Seele. Nach einem Sturz vom Pferd bricht ein Staatsanwalt in einem somnambulen Zustand in sein eigenes Haus ein. Der Mensch kann sich seiner Identität nicht sicher sein. Die Vielzahl der Verfilmungen von Stevensons Novelle Dr. Jekyll und Mr. Hyde (zuletzt Stephen Frears Mary Reilly von 1995) spielt mit dem Stoff der gespaltenen Psyche. Sogar die Serienkiller-Serie der letzten Jahre weist darauf hin, dass ein Mörder hinter dem freundlichen Gesicht des Nächsten versteckt sein mag. Ein Höhepunkt der filmischen Auseinandersetzung mit Bewusstseinsspaltung und ein Gipfel des Psychothriller-Genres überhaupt war jedoch Alfred Hitchcocks Psycho (1960). Darin geht es ja nicht nur um den Mörder, der das Imago seiner Mutter nicht loswerden kann. Auch Janet Leighs Rolle der kleinen Angestellten, die zur Diebin wird, verweist auf die schmale Grenze zur kriminellen Abgründigkeit.
Das Bildsymbol des Unheimlichen in Psycho ist das Haus. Hitchcock hat den Hort der Geborgenheit fotografisch in sein Gegenteil verwandelt. Das Haus oder die Wohnung können zu Zonen des Schreckens werden, wenn sie die Bewohner nicht mehr zu behüten vermögen. Die Wendeltreppe in Robert Siodmaks gleichnamigem Film von 1945 steht sowohl für die Achse des Hauses wie für deren Verdrehtheit, wenn ein Mörder eine stumme Frau verfolgt. In Warte, bis es dunkel ist von Terence Young (1967) ist es eine Blinde, die in der eigenen Wohnung von Gangstern terrorisiert wird. Der Gast, der dem Gastgeber unheimlich wird, bedeutet das Fremde, von dem das Eigene bedroht wird. René Cléments Der aus dem Regen kam (1969) ist ein besonders raffinierter Film zu diesem Thema. In der amerikanischen Ideologie ist die Verletzung der 'Festung Eigenheim' als des unerschütterlichen Schutzraums der Familie ein besonders verwerfliches Verbrechen. Deswegen ist die Machtübernahme der Gangster im Herrschaftsbereich des Familienvaters, wie sie William Wyler in An einem Tag wie jeder andere (1954) vorführt, so ein erschütterndes Ereignis. Doch am Ende des Films ist die Ordnung wieder hergestellt. Europas Kino verzichtet häufig auf solche weltanschauliche Stützen in der Bodenlosigkeit. In vier Filmen hat Roman Polanski das panische Gefühl des Ausgesetztseins in den eigenen vier Wänden variiert, in Ekel (1965), Wenn Katelbach kommt (1966), Rosemary's Baby (1968) und Der Mieter (1976). Andere Filme haben das bedrohte 'Drinnen' ausgeweitet. In Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) steht eine ganze Stadt unter dem Schock des Kindsmörders. In King Kong von Cooper und Schoedsack (1933) verkörpert sich die Idee der Naturgewalt, die den Zaun zur Zivilisation durchbricht, sinnfällig in einem Riesenaffen.
Die Erfahrung des Unheimlichen verändert den Blick und lädt ihn mit Angst auf. Deswegen ist der deutsche Titel Das Auge für Claude Millers Meisterwerk des Seelensturzes (1982) besonders gelungen. Es ist die Geschichte eines Detektivs, der eine Mörderin (unter anderem mit der Kamera) verfolgt und sich plötzlich mit ihren Taten identifiziert. Die Kamera – Michael Powell hat es in Peeping Tom (1959) unübertrefflich gezeigt – kann sich rasch in ein Mordinstrument verwandeln. Und jedes Kino hat als Filmhaus seine (Lein-)Wand für die Schrecken des Unheimlichen weit geöffnet.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 12.12.2006