Der Präsident, die Wähler und Primary Colors
Den Film über einen durch fremde Betten huschenden Präsidentschaftskandidaten mit Drei- oder Vierfachmoral hat sich US-Präsident Bill Clinton "aus Zeitmangel" noch nicht ansehen können – was wegen der zeitraubenden juristischen Bewältigung seiner eigenen mutmaßlichen Bettgeschichten auch nicht weiter verwunderlich ist. Wenn demnächst die Unterleibsakten durch Sonderstaatsanwalt Kenneth Starr und das Washingtoner Parlament geschlossen werden, kann sich Clinton Mit aller Macht (Primary Colors) ja auf Video ansehen: im Wohnzimmer des Weißen Hauses und womöglich Händchen haltend mit Hillary.
Als der Film im März 1998 in die amerikanischen Kinos kam, geisterte die Praktikantin Monica Lewinsky schon durch die Medien, jene junge Dame, die behauptete, mit dem richtigen Bill Clinton im Oval Office etwas gemacht zu haben, was sonst allenfalls in ehelichen Schlafzimmern vorkommen soll. Dennoch meinten nur knapp zehn Prozent aller Kinogänger, dass der Film gewisse Parallelen zwischen dem Film-Politiker und dem mit angeblichen Turnübungen beschäftigten Akteur im Weißen Haus aufweise. Die amerikanischen Medien leisteten kräftig Aufklärungsarbeit und stilisierten das Buch zum Film zum Schlüsselroman hoch. Da wurde aus dem Film-Gouverneur Jack Stanton der Arkansas-Gouverneur Bill Clinton, aus seiner Ehefrau Susan schnell eine Hillary; und auch alle anderen Top-Figuren aus Clintons Wahlkampf-Umgebung waren plötzlich identifizierbar. Der richtige James Carville, die Betsy Wright, die Mandy Grunwald und alle anderen wirkten so, als hätten sie sich für einen Filmauftritt verkleidet. Und einige der im Film gezeigten, präsidialen Libido-Schübe hat es nachweislich während des Clintonschen Wahlkampfes gegeben. Diese Erkenntnis führte die US-Medien zu dem ziemlich einhelligen Schluss, dass es sich bei Primary Colors nun wirklich nicht um eine erfundene Geschichte, sondern um ein fast wahrheitsgetreues "Doku-Drama" handle. Die US-Kinogänger zeigten sich von dieser Aufklärungsakribie aber wenig beeindruckt. Und den nahezu alles erforschenden US-Demoskopen teilten schließlich rund 80 Prozent der von den Medien 'aufgeklärten' Befragten mit, dass sie den Inhalt des Film als frei erfunden einstuften. Und wenn die eine oder andere Szene auf einer wahren Begebenheit beruhe, sollten sich die Filmemacher schämen. Denn das unterhalb des Nabels angesiedelte Privatleben des Präsidenten gehe nur ihn und seine Frau etwas an.
Inzwischen ist Primary Colors in den Vereinigten Staaten auch schon weitgehend in Vergessenheit geraten, und alle 'Enthüllungen' um präsidiale Schieflagen im wirklichen Leben haben zu einer glasklaren Erkenntnis geführt: Die Mehrheit der Amerikaner weiß weiterhin zwischen Film und Realität sowie zwischen privatem und öffentlichem Leben der Spitzenpolitiker zu unterscheiden. Wie anders wäre zu erklären, dass die Popularität Clintons seit dem Bekanntwerden der "Monica-Affäre" stetig gestiegen ist, und Clinton zu den beliebtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte gehört? Seine vermuteten Schwierigkeiten mit der Hormonkontrolle erinnern die Amerikaner daran, dass sie bei den Männern im Weißen Haus schon immer fein säuberlich zwischen Politik und Libido unterschieden haben. Abraham Lincoln konnte seine Finger nicht von einer schwarzen Sklavin lassen, Franklin Roosevelt starb in den Armen seiner Geliebten Lucy Rutherford, Dwight Eisenhower brachte aus dem Zweiten Weltkrieg neben einer Heldenaura auch seine "Fahrerin" Kay Summersby mit, und bei John F. Kennedy füllt die Namensliste seiner Seitensprünge so etwas wie das Telefonbuch einer mittleren Kleinstadt.
Die ständig Sex-Enthüllungen recycelnden US-Medien und aufgeregte Kommentare von Talkshow-Experten vermitteln ganz offensichtlich ein verzerrtes Bild von der Gemütslage der Nation. An Wahltagen und auch anschließend sind sich US-Wähler augenscheinlich bewusst, dass sie zwischen Politikern mit politischen Programmen und nicht zwischen konkurrierenden Moralaposteln zu wählen haben. Insofern haben Politiker viel mit Klempnern und Zahnärzten zu tun, die man wegen tropfender Wasserhähne und pochender Weisheitszähne ruft und nicht wegen ihres vorbildlichen ethischen Lebenswandels. Amerikaner und Bürger anderer Gegenden sind gut beraten, wenn sie die filmischen Darstellungen des US-Präsidenten nicht mit dem Abbild der Wirklichkeit verwechseln. Denn neben etlichen Film-Präsidenten wie in Air Force One, Independance Day, All the President's Men, Dave, Wag the Dog, Nixon, Absolute Power und The American President gab es 1964 auch den präsidialen Atombomben-Werfer in Dr. Strangelove. Und der versetzte die Kino-Gänger damals genauso wenig in reale Angst und Schrecken wie der Bettenhopser in Primary Colors. Womit bewiesen wäre, dass amerikanische Kinogänger einen kühleren Kopf bewahren als ihn die Regierenden bei den Regierten oft vermuten.
Autor/in: Peter W. Schroeder, Washington, 12.12.2006