Interview
... leben wie in einem Ghetto
Ein Gespräch mit Ken Loach
Das Interview führte Margret Köhler.
Interviewpartner: Ken Loach
Nach internationalen und größeren Produktionen wie Land and Freedom über den Spanischen Bürgerkrieg und Carla's Song über die Folgen des Bürgerkrieges in Nicaragua drehten Sie wieder in England. Ist das eine Rückkehr zu Ihren Wurzeln, zu den 'kleinen' sozialkritischen Filmen?
Auch mit einem kleineren Budget arbeitet man ambitioniert, die emotionale Herausforderung bleibt die gleiche. Die Organisation in England ist leichter, die Instinkte arbeiten besser, weil man einfach näher am Thema ist. Auch wenn man sich für die große Geschichte interessiert, sollte man die Gegenwart mit ihren kleinen Geschichten nicht aus den Augen lassen oder minder bewerten.
Die Gegenwart stellt sich für Ihre Protagonisten relativ hoffnungslos dar.
Ich gebe nur die Realität wieder. Wir haben nicht übertrieben oder unsere Fantasie spielen lassen, sondern Drehbuchautor Paul Laverty hat alles genau recherchiert. Die Leute aus dem Milieu waren Experten und öffneten uns die Augen. Was uns Sozialarbeiter, Arbeitslose und Ex-Junkies über die Szene erzählten, war fast noch schlimmer als das, was wir auf der Leinwand vermitteln. Dieses Glasscherbenviertel in Glasgow, das nur einen Steinwurf von den besseren Gegenden entfernt ist, existiert. Die Menschen leben wie in einem Ghetto und haben einfach weniger Chancen. Sie bewegen sich in einem Teufelskreis. Es gibt keine Jobs und ohne Jobs kein menschenwürdiges Leben. Die einzigen Stellen bieten die kommunalen Projekte; das ist völlig künstlich. Wenn jemand in dieser aussichtslosen Situation zur Flasche greift, halte ich das für normal.
Gibt es am Ende Hoffnung für Sarah und Joe?
Natürlich möchte man den Zuschauer nicht in ein schwarzes Loch fallen lassen. Eigentlich ist es schon ein Wunder, dass sich die zwei in diesem explosiven, sozialen Spannungsfeld überhaupt gefunden haben. In Wirklichkeit überwindet kaum jemand diese sozialen Schranken oder interessiert sich dafür, wie der andere lebt. Aber eine heile Welt vorzugaukeln, lag mir fern. Ich öffne den Blick nur auf ein Stückchen Himmel, ein Stückchen Hoffnung.
Sie legen in Ihren Filmen den Finger auf die Wunde, beschönigen nichts. Aber Sie können auch nichts ändern. Ist das nicht frustrierend?
Es reicht doch, wenn ich auf Missstände aufmerksam mache. Von der großen Weltveränderung oder Weltrevolution durch Filme träume ich nicht. Arbeitslosigkeit hat Ursachen und eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Menschen ohne Arbeit verfügen über keine Lobby, niemand verleiht ihnen eine Stimme. Diejenigen, die noch einen Job haben, nehmen aus Angst vor Arbeitsplatzverlust auch schlechtere Bedingungen in Kauf. Aber die Wut könnte eines Tages ungeahnte Auswirkungen nach sich ziehen. Wenn die Regierung das Problem nicht in den Griff bekommt, besteht die Gefahr, dass die Rechten mit ihren Parolen das Feld besetzen.
Ihre Filme beeindrucken durch Authentizität. Liegt das auch daran, dass Sie mit Profis und Laien zusammenarbeiten?
Diese Mischung finde ich sehr fruchtbar. Einige der Mitwirkenden waren kein unbeschriebenes Blatt und hatten Erfahrungen mit der Polizei, die machten wir uns zu Nutze. Es heißt oft fälschlicherweise, dass Arbeitslose unmotiviert seien. Dieses Vorurteil ärgert mich. Ihr Einsatz beweist, dass sie sich engagieren können. Man muss ihnen nur die Chance geben.
Seit den 60er Jahren beschäftigen sich Ihre Filme mit der Arbeiterklasse in England. Warum fasziniert Sie dieses Sujet?
Es ist keine sentimentale, sondern eine politische Frage. Es ging von Anfang an um mehr Gerechtigkeit. Der dramatische Stoff ist in der Arbeiterklasse viel reicher, viel spannender, viel näher an existenziellen Fragen. Der Überlebenskampf macht das Drama ihres Lebens vielfältiger als in der Mittelklasse. Auch die Sprache empfinde ich als reicher.
Autor/in: Margret Köhler, 11.12.2006