Die Welt ist ein Dorf, wir haben's immer gewusst. Das Dorf heißt Far Chor und liegt in der Nähe von Samarkand in Usbekistan, allerdings nur fiktiv als Schauplatz von "Luna Papa", dem neuen Film von Bakhtiar Khudojnazarov und die Welt ist dabei vertreten durch eine rekordverdächtige Vielzahl von internationalen Koproduzenten, Partnern und Fördergremien. Das riecht verdächtig nach Euro- oder gar Globalpudding. Darum sei das Bemerkenswerteste an diesem Film gleich vorweg genannt: Der 35-jährige Regisseur hat sich auch von so vielen Köchen seinen Brei nicht verderben lassen.
Ost und West im Film
Brei ist allerdings kaum die angemessene Bezeichnung. Eher schon ist "Luna Papa" ein kunstvolles Mosaik. In mal zarten, mal grellen Farben kontrastieren der in Tadschikistan geborene Khudojnazarov und sein georgischer Drehbuchautor Irakli Kwirikadse die gegensätzlichsten Themen und Stile miteinander: die Glücksträume der siebzehn Jahre jungen Heldin Mamlakat (glänzend gespielt von Chulpan Khamatova) mit den verkrusteten Moralvorstellungen ihres Volkes und den politischen Wirren in der zerfallenen Ex-Sowjetunion, die Handlungsmuster westlichen Genrekinos mit der unerschöpflichen Fantasie und Erzähltradition Zentralasiens.
Verlorene Unschuld
Mamlakat träumt von einer Schauspielkarriere. Sie lässt keine Aufführung durchziehender Theatertruppen aus und wird prompt leichte Beute für die Verführungskünste eines Mannes, dessen vorgeblich enge Kontakte zu Hollywood-Topstar Tom Cruise ihr als die erste Stufe zur Karriereleiter erscheinen. Doch wie der Vollmond, in dessen fahlem Licht Mamlakat ihre Unschuld verliert, ist auch der mysteriöse Beglücker am nächsten Morgen verschwunden, ohne dass sie auch nur sein Gesicht gesehen hätte. Was ihr bleibt, sind ein Baby in ihrem Bauch und ihr Vater Safar. Dieser macht sich - da alle heimlichen Abtreibungsversuche scheitern - mit Mamlakat und ihrem debilen Bruder Nasreddin in einem klapprigen Auto auf, den Missetäter zu suchen, um durch eine Heirat die Familienehre wieder herzustellen.
Reise ins Land der Fantasie
Das Grundmuster des Roadmovies ist damit angelegt und die Stationen ihrer Suche sind der Kamera willkommene Gelegenheit, Weite und Kargheit der Landschaft beeindruckend ins Bild zu rücken. Doch mehr als eine geografische ist "Luna Papa" eine Reise ins Land der Fantasie. Absurde Erscheinungen, bizarre Wunder und Mythen nehmen dem Geschehen immer wieder die Bodenhaftung, heben es in eine Märchenwelt - und dienen doch zugleich dazu, es in eine sehr konkrete Gegenwart einzubinden. Sie bringt mindestens ebenso wunderliche und absurde Erscheinungen hervor - so darf man den von den Entwicklungen in seinem Land zutiefst desillusionierten Khudojnazarov wohl interpretieren.
Eine Kuh fällt vom Himmel
Da erschlägt eine vom Himmel fallende Kuh zwei Menschen, doch das vermeintliche Wunder ist nur ein banales Symptom des allgegenwärtigen Chaos: Eine Flugzeugbesatzung hat vergeblich versucht, sich mit der Kuh für ausbleibenden Sold schadlos zu halten. Andere versuchen, mit einer 'privaten' Blutspendestation zu Geld zu kommen. Nasreddin, aus dem Afghanistan-Krieg mit 'Dachschaden' heimgekehrt, imitiert wie ein Kind die über das Dorf hinwegdonnernden Flugzeuge (ihn spielt übrigens der deutsche Jungstar Moritz Bleibtreu). Der Staat ist in Auflösung, eine vagabundierende Panzer-Besatzung repräsentiert die Macht im Ort und der Arzt, der Mamlakats Abtreibung vornehmen soll, wird Opfer einer Bandenfehde.
Verständnis für die Menschen
So illusionslos, fast sarkastisch Khudojnazarov die gesellschaftlichen Zustände offen legt, so verständnis- und geradezu liebevoll zeichnet er die Figuren, die sich darin bewegen. Kein böses Wort über den vergrämten Safar, der nach dem Tod seiner Frau die Familie mehr schlecht als recht zusammenhält und dem doch die Familienehre über alles geht, kein Tadel für die rigorose Moral der Dörfler, die Mamlakat als Hure verachten. Nicht die Menschen sind gut oder böse in diesem Film, es sind die Last überkommener Moralvorstellungen und die Orientierungslosigkeit im postsozialistischen Chaos, die sie hindern, solidarisch miteinander umzugehen und auch das Abweichende zu akzeptieren.
Innen- und Außenseiter
Ein so origineller wie brillanter dramaturgischer Einfall stützt solche Sichtweise auf das Treffendste: Von Anfang an lässt Khudojnazarov das Geschehen aus dem Off kommentieren - durch die Stimme des noch ungeborenen Babys aus Mamlakats Bauch! Seine Sicht, im Wortsinne die eines "Innenseiters", hebt die trennenden Kategorien "draußen" quasi auf. Sie macht aus den handelnden Personen des Films gleichsam eine "Gesellschaft von Außenseitern", deren Fehler und Schwächen der noch nicht Geborene aus der künstlich geschaffenen Distanz mit gnädiger Milde betrachten kann. Eine Haltung, die auch uns gut anstünde.
Autor/in: Hans-Günther Dicks, 01.07.2000