Cannes 2002
Punch-Drunk Love
Cannes feierte die Rückkehr des engagierten Kinos mit kritischen gleichzeitig unterhaltenden, manchmal auch verstörenden Zwischentönen. Mal explizit politisch, wie in Atom Egoyans Aufarbeitung des Genozids der Türken an der armenischen Minderheit 1915, oder implizit, wie in P.T. Andersons skurrilem
Punch-Drunk Love über die Einsamkeit und Schrullen eines kleinen Angestellten.
Der Pianist
Israel und Palästina
Es war ein geschickter Schachzug, einen israelischen und einen palästinensischen Spielfilm in den Wettbewerb aufzunehmen. Amos Gitai wirft in
Kedma einen Blick zurück in das Jahr 1948, als jüdische Immigranten nach Palästina kommen und den Staat Israel gründen, damit den Grundstein für den aktuellen Konflikt legen. Den nahm der Palästinenser Elia Suleiman in
Göttliche Intervention auf, formal beeindruckend, aber in seiner eindimensionalen Aussage einem Propagandafilm ähnlich. Liebe hat in dem zerrissenen Land keine Zukunft, dafür der Terror, so die Aussage. Arafat lächelt von Luftballons, Flaschen und Granaten fliegen gegen die Besatzer, Kontrolleure und Kontrollierte stehen sich unversöhnlich gegenüber. Und die Bösen sind unisono die Israelis, auch wenn er dem Großteil seiner Landsleute eine gewisse Lethargie bescheinigt.
Überleben im Warschauer Ghetto
Der "Preis der Jury" für Suleimans Film sollte wohl eine Art "Gegengewicht" zum Gewinner der "Goldenen Palme" schaffen, zu Roman Polanskis
Der Pianist . Polanski, der bewusst keine Autobiographie drehte, greift das Trauma seiner Kindheit auf, die Zeit im Ghetto und die Vernichtung seiner Familie. In der ersten Hälfte begnügt er sich mit konventionellen Bildern von Opfern und Tätern im Warschauer Ghetto. Im Mittelpunkt steht die Familie Szpilman, die ins KZ deportiert wird, bis auf den Sohn Wladyslaw, einen begnadeten Pianisten. Wie er seinem Schicksal entkommt und in den Ruinen der zerstörten Stadt überlebt, das wird zum berührenden Drama.
Irreversible
Rache und Vergebung
Zu den Preiskandidaten zählte auch
Le Fils (Der Sohn) der Gebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Die Belgier ("Goldene Palme" für
Rosetta vor drei Jahren) entwerfen die Tragödie eines einfachen Mannes, der in einer Werkstatt für arbeitslose Jugendliche als Schreinermeister arbeitet. Sein kleiner Sohn wurde bei einem Überfall vor fünf Jahren ermordet, jetzt beginnt der inzwischen aus dem Gefängnis entlassene 16-jährige Täter eine Ausbildung bei ihm. Die Annäherung und die Überwindung von Hass und Wunsch nach Rache schildern die Filmemacher in großer Intensität, wenn auch in extremer Langsamkeit. Um Rache ging es auch im "Skandalon" des Festivals, in Gaspar Noés
Irréversible (Unumkehrbar). Die Geschichte wird rückwärts erzählt. Nach und nach erfährt man, dass der Auslöser für den grauenvollen Mord zu Beginn in einem Schwulenclub (eigentlich am Ende) eine bestialische Vergewaltigung war, schonungslose zehn Minuten lang in einer Einstellung gefilmt, aus der Sicht einer in ihrer Weiblichkeit verletzten, gedemütigten und zerstörten Frau. Der Film mag schwulenfeindlich, kommerziell berechnend und extrem hart sein, aber man muss sich mit ihm auseinandersetzen.
All or Nothing
Hoffnung(slosigkeit)
Publikumsliebling war Aki Kaurismäkis
Der Mann ohne Vergangenheit , eine melancholische, aber am Ende optimistische Liebesgeschichte im Milieu der von der Gesellschaft Ausgestoßenen, mit herrlich schwarzem Humor und Sympathie für seine Figuren. Wie immer anrührend die Engländer Mike Leigh und Ken Loach. Leigh schildert in
All or Nothing den tristen Alltag in den Betonburgen der Londoner Vorstädte, in Routine erstarrte Gefühle und das Auseinanderbrechen der Familie, lässt aber ein Fünkchen Hoffnung. Die zerstört Loach gründlich, der bei
Sweet Sixteen erneut mit Autor Paul Laverty (er erhielt den Drehbuchpreis) zusammenarbeitete. Bei ihm ist Jungsein ein Synonym für Chancenlosigkeit, aufgezeigt am Leben eines Teenagers zwischen Armut, Drogen und Kriminalität.
Littleton und Erfurt
Als Sensation gilt der Spezialpreis zum 55. Geburtstag des Festivals, der an Michael Moores satirischen Dokumentarfilm
Bowling for Columbine ging (den ersten seit 46 Jahren im Wettbewerb). Ausgehend vom Massaker an der Columbine Highschool in Littleton problematisiert der Amerikaner das Thema Waffenfetischismus und Waffengewalt seiner Landsleute und kommt zu dem Schluss, die historisch gewachsenen Angst-Neurosen der US-Gesellschaft seien Wurzel der Aggression. Durch die Ereignisse in Erfurt gewinnt diese außergewöhnlich informative und unterhaltende Dokumentation auch bei uns an Bedeutung.
Autor/in: Margret Köhler, 21.09.2006