goEast – 3. Festival des mittel- und osteuropäischen Films 2003
Bolshe Vita
In seinem dritten Jahr hat das vom Deutschen Filminstitut (DIF) veranstaltete "goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films" in Wiesbaden seine Position international etabliert und auch die Besucherzahlen auf nunmehr 5500 steigern können. Trotz des gemeldeten Rekords an Einreichungen von Wettbewerbsfilmen hat sich allerdings die Quantität nicht generell auch auf die Qualität des Spiel- und des Dokumentarfilmwettbewerbs ausgewirkt. Viele der Beiträge kamen über ein ordentliches Mittelmaß oder einen gewissen Achtungserfolg nicht hinaus, nur ganz wenigen dürfte später auch größere Aufmerksamkeit im Fernsehen oder gar an der deutschen Kinokasse beschieden sein. Um von solchen vielleicht nur zufälligen Schwankungen in der jährlichen Produktionsqualität nicht allzu abhängig zu sein, hat das Festival von Anfang an auf ein umfangreiches Rahmenprogramm gesetzt, das die Filme in größere Zusammenhänge stellt. Es enthielt dieses Jahr neben einem weiteren Wettbewerb mit Studentenfilmen und aktuellen Highlights, die aus manchmal unersichtlichen Gründen nicht im Wettbewerb liefen, u. a. eine Retrospektive mit Verfilmungen des berühmten Dramatikers Anton Tschechow und ein Symposium über "Bilder des Deutschen im sowjetischen und postsowjetischen Kino".
Der Schlüssel ...
Neue Reihe: Schulfilmtage
Zum ersten Mal richtete sich das Festival an drei Vormittagen mit Schulfilmtagen gezielt an jüngere Zuschauer, bei denen man eigene Erfahrungen mit osteuropäischen Sichtweisen, Inszenierungsformen und Mentalitäten nicht wie bei dem Fachpublikum und den Cineasten voraussetzen kann. Die neue Reihe wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Medienzentrum Wiesbaden e.V. unterstützt. Alle Filme wurden kurz eingeführt, nach den Vorstellungen konnten die Wiesbadener Schüler/innen diskutieren und Fragen an die Moderatoren stellen. Größere Resonanz bei ihnen fanden die schon etwas älteren Filme Schwarze Augen (1987) von Nikita Michalkov und der seinerzeit in Zusammenarbeit mit dem ZDF/Kleines Fernsehspiel entstandene ungarische Film Bolshe Vita (1995/96) von Ibolya Fekete. Im nächsten Jahr möchten die Veranstalter diese Reihe nach Möglichkeit noch ausbauen, zumal sie "gerade auch im Hinblick auf die EU-Osterweiterung 2004 eine notwendige Ergänzung innerhalb des Unterrichts" sei.
Tanzsaal
Osteuropa im Dokumentarfilm
Dokumentarfilme aus Osteuropa waren die eindeutigen Gewinner des Wettbewerbs und stellten dort im Vergleich zu den meisten Spielfilmen auch die interessanteren Beiträge. So sah es offenbar auch die internationale Jury unter dem Vorsitz des tschechischen Altmeisters Jirí Menzel, die ihre beiden wichtigsten Preise für den besten Film (von Martin Sulik) und die beste Regie (Livia Gyarmathy) jeweils einem Film aus der Dokumentarfilmsektion zusprach. Allerdings verwischen die Grenzen zwischen beiden Gattungen zusehends, mischt sich Fiktionales und Inszeniertes mit Beobachtung und Dokumentation. Martin Sulik aus der Tschechischen Republik spielt in seinem treffender als "dokumentarisches Filmessay" zu bezeichnenden Meisterwerk Der Schlüssel, um Zwerge zu definieren oder Lemuel Gullivers letzte Reise virtuos mit den Mitteln des Kinos und lässt anhand der persönlichen Aufzeichnungen des hierzulande weniger bekannten Filmemachers Pavel Jurácek (1935-1989) das gesellschaftspolitische Klima in der CSSR vor und nach dem Einmarsch der Russen in Fotos, mit Archivmaterial und inszenierten Szenen beklemmend authentisch und emotional bewegend Revue passieren. In nur knapp einer Stunde gelingt es dem Film, sehr präzise persönliche Beziehungsprobleme (das Scheitern einer Ehe) mit der Selbsterfahrung eines von der Zensur gegängelten Künstlers (Produktion und Verbot von "Gullivers letzte Reise") und dem gesamtgesellschaftlichen Drama des Scheiterns der Hoffnung auf eine bessere Welt (Einmarsch der Russen) zu verbinden. Gerade die einem westlichen Publikum nachvollziehbare Verbindung privater Schicksale aus osteuropäischen Ländern mit gesellschaftlichen Entwicklungen dort kam dagegen in den meisten Spielfilmen zu kurz. Seine Authentizität gewinnt Suliks "Blick zurück nach vorne" zusätzlich durch Juráceks Sohn Marek, der seinen Vater in den Spielsequenzen verkörpert.
Brot über den Zaun
Zufriedenheit im Hier und Heute
Die Kunst des Beobachtens und des Inszenierens beherrscht die Ungarin Livia Gyarmathy gleichermaßen. Für ihren Film Tanzsaal wurde sie deshalb mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Die Filmemacherin beobachtete mit der Kamera voller Sympathie, humorvoll und ohne wertende oder erläuternde Kommentare die Bewohner eines kleinen abgelegenen Dorfes mitten in der ungarischen Provinz. Dort bringt ein Tanzlehrer aus der Stadt einmal wöchentlich mit Foxtrott und Walzer Abwechslung und ein Stück Magie in ihr bäuerliches Leben, das sonst eher von harter Arbeit geprägt ist. – Gleich zwei Preise bekam der bulgarische Film Brot über den Zaun von Stephan Komandarev zugesprochen. Er portraitiert exemplarisch einige Bewohner zweier Dörfer im Nordwesten Bulgariens, die in relativer Armut und doch glücklich und zufrieden leben. Der Film dokumentiert, wie einst aus religiösen Motiven verfeindete Nachbarn (Katholiken, Orthodoxe und Muslime), die sich gegenseitig bis aufs Blut bekriegt hatten, im Lauf der Jahre zu Toleranz und Solidarität gefunden haben und unter Verzicht auf weitere Rache der Spirale der Gewalt ein Ende setzen konnten. Wenn der eine hungert, kann sich der andere nun auf seine Nachbarn verlassen, wird Brot über den Zaun gereicht, "denn Brot sollte jeder bekommen". Ein zutiefst humaner Film, der sich nicht in bloßen Lippenbekenntnissen erschöpft und Hoffnung macht, dass es auch in anderen Krisenregionen einmal zur Befriedung kommen wird.
Jagoda im Supermarkt
Zwischen Komödie und Satire
Angesichts der qualitativen Übermacht des Dokumentarischen im gegenwärtigen osteuropäischen Filmschaffen seien zur Ehrenrettung des Spielfilms im Wettbewerb zwei Beispiele herausgegriffen. Kira Muratova überträgt in ihrem neuen Film Cechov-Motive (Russland 2002) typische Charaktere und Motive aus den Dramen des Dichters in die Gegenwart und macht daraus eine aberwitzige Schwarzweiß-Persiflage auf tyrannische Familienstrukturen, die Dekadenz des Großbürgertums und sinnentleerte religiöse Rituale. Gerade weil das Festival mit dem Anspruch auftritt, eine Vermittlerfunktion für diese spezielle Art von Filmkultur einzunehmen, sollte man in Zukunft vielleicht auf eine Simultaneinsprechanlage zurückgreifen, denn in diesem Schwarzweißfilm ließen sich die weißen Untertitel vor überwiegend weißem Hintergrund nicht besonders gut lesen. – Die jugoslawisch-deutsch-italienische Koproduktion Jagoda im Supermarkt von Dusan Milic, für den der bekannte bosnische Regisseur Emir Kusturica als Produzent zeichnete, bekommt demnächst sogar eine Chance im Kino. Die gut gespielte Tragikomödie erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer Kassiererin in einem neueröffneten Belgrader American Supermarket (gewissermaßen "amerikanisches Ausland") und einem bewaffneten Geiselnehmer, der den Supermarkt überfällt, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Vertreter des 'alten' und des 'neuen' Gesellschaftssystems versuchen jeweils auf ihre Weise, der brenzligen Situation Herr zu werden.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006