Cannes 2003
Elephant
Das 56. Filmfestival von Cannes enttäuschte fast auf der ganzen Linie, der Wettbewerb schien zusammengestückelt nach der Devise: Hauptsache, der französische und der französisch koproduzierte Film sind präsent (mit 10 von 20 Beiträgen). Über die Mantel- und Degenklamotte Fanfan la Tulipe, die das Festival eröffnete, sollte man besser den Mantel des Schweigens breiten. Gérard Krawczyks überflüssiges Remake des Klassikers "Fanfan der Husar" von 1952 ist uninspiriert und von plattem Humor. Es wurde nur noch von einem unsäglichen Bertrand Blier übertroffen, der in dem französischen Wettbewerbsbeitrag Les Cotelettes die Fantasien zweier "dirty old men" zu neuen peinlichen Höhenflügen brachte.
Dogville
Eine schwer nachvollziehbare Juryentscheidung
Warum die Jury unter Vorsitz von Patrice Chéreau die "Goldene Palme" nicht an den Kritikerfavoriten
Dogville des dänischen Regisseurs Lars von Trier verlieh, sondern an Gus van Sants amerikanische Fernsehproduktion
Elephant, gehört mit zu den Ungereimtheiten des Festivals. Das hinterlässt den Eindruck, als ob die Juroren ihren pädagogischen Instinkt kultivieren oder sich an politischer Korrektheit delektieren wollten. Van Sants honoriger Versuch der Annäherung an das Massaker von Columbine im April 1999 scheitert an mangelndem Engagement, die Hintergründe dieser Tat zu verdeutlichen. Stattdessen bewegen sich Laiendarsteller gelangweilt durch Schulflure, darunter die zwei jugendlichen Killer. Diese interessieren sich nur für Videospiele, klimpern die Mondscheinsonate auf dem Klavier herunter, schauen eine Hitler-Dokumentation im Fernsehen, küssen sich unter der Dusche und freuen sich, wenn endlich die Waffen per Post kommen, damit sie losschlagen können. Das ergibt eine etwas zu simple Psychologie der Ursachen und wer Michael Moores
Bowling for Columbine kennt, kann auf dieses unreflektierte, sich an Moores Erfolg hängende Elaborat gut verzichten.
La petite Lili
Der Kritikerfavorit ging leer aus
Dogville dagegen beeindruckte durch ausgeklügelte Bildkomposition und inszeniertes Theater. Knapp drei Stunden (die Kinofassung wird um 40 Minuten gekürzt) lässt der Däne seine Schauspieler an einem einzigen Ort inmitten minimaler Kulissenfragmente agieren. Angelehnt an Brechts "Ballade von der Seeräuber-Jenny" erzählt er von einer jungen Frau, die in einem verlorenen Dorf der Rocky Mountains während der Depression in den 1930er Jahren Unterschlupf findet, dort erst wohlwollend aufgenommen, dann sexuell und als Arbeitskraft ausgenutzt wird. Im Gegensatz zu seinen früheren Filmen wie
Breaking the Waves oder
Dancer in the Dark begnügt sich die Heldin nicht mit der Opferrolle, sondern rächt sich gnadenlos in dieser Fabel über das Böse im Menschen.
Dogville ist der erste Teil einer geplanten Trilogie namens "U,S and A". Pikanterweise echauffierte sich das US-Branchenblatt "Variety" flugs über Anti-Amerikanismus.
Les invasions barbares
Ernstes und Heiteres ohne Tiefgang
Um den Menschen als des Menschen Wolf ging es auch in Michael Hanekes
Le Temps du Loup/Wolfszeit. Nach
Funny Games und
Die Klavierspielerin präsentierte er außer Konkurrenz erneut eine Endzeitstory in düstersten Farben. Ein Ehepaar samt Kindern trifft im Wochenendhaus einen Einbrecher, der den Familienvater erschießt. Allein auf sich gestellt, irrt die Mutter durch eine unwirtliche Gegend und landet in einem Bahnhof, einer Auffangstation für Individuen, die ohne staatlich vorgegebene Ordnung das Überleben proben. Heiter ging es dagegen in
La petite Lili zu, einem Künstlerdrama nach Tschechow. Claude Miller inszeniert diese "Möwe"-Adaption typisch französisch. Auf dem Land genießt man die exquisiten Freuden des Speisens und Trinkens, übt sich in Seitensprüngen. Das zuckersüße Happy End hat aber nichts mehr mit Tschechow zu tun. Die Leichtigkeit des Seins in gepflegt bourgeoiser Atmosphäre – das reicht nicht für einen Festivalfilm.
At Fife in the Afternoon
Im Angesicht des Todes
Leichtfüßig und dennoch mit Tiefgang kommt Denys Arcands Les invasions barbares daher, den er siebzehn Jahre nach Der Untergang des amerikanischen Imperiums mit größtenteils denselben Schauspielern gedreht hat. Die melancholische Betrachtung über das Sterben rührt zutiefst. Da eilen Ex-Frau, Ex-Geliebte und reicher Broker-Sohn an das Krankenbett des Pater Familias. Der Filius sorgt für Luxus im schnell renovierten Einzelzimmer, lässt Freunde einfliegen und versucht dem Alten die letzten Tage erträglich zu machen, inklusive illegal angekaufter Heroin-Dosis zur Linderung der Schmerzen. Die Geschichte eines kurzen Abschieds gewinnt sukzessive an Intensität, die Reflexion über die Irrtümer des Lebens und die Erinnerung an politische Illusionen machen den Film sehr menschlich. Am Ende ist die Angst vor dem Tod zwar nicht überwunden, aber der Schrecken etwas kleiner.
The Fog of War
Anspruchsvolle Kinokunst
Als Palmen-Kandidat galt auch Clint Eastwoods perfekt gemachter
Mystic River über Männerfreundschaft, Wunden der Kindheit und archaische Rache. Der "Preis der Jury" für Samira Makhmalbafs ersten nach der Taliban-Ära gedrehten Film in Afghanistan
At Fife in the Afternoon entsprach den Erwartungen ihrer früheren Filme. Die 23-jährige Iranerin verfolgt in ihrem neuen Werk politisch manchmal etwas naiv und strukturlos den Weg einer jungen Afghanin, ihre kleinen Schritte in Richtung Emanzipation und ihre Rückschläge, denn sie muss sich mit dem Machtanspruch und den Moralvorstellungen einer patriarchalischen Gesellschaft auseinander setzen. Trotz der Misere im zerstörten Land lässt Makhmalbaf nach dieser harten und poetischen Reise durch das heutige Afghanistan ein Fünkchen Hoffnung.
September
Empfehlenswerte Fundstücke
Vollkommen unterbewertet wurde André Techinés Kriegsdrama
Les Egarés. In eindringlichen Bildern schildert er die Odyssee einer Witwe mit zwei Kindern durch ein von deutschen Stukas bombardiertes Frankreich, die Flucht nach Südfrankreich, die kurze Zeit der Isolation in einem pittoresken Landhaus, die fernab jeglicher Kämpfe einen Atemzug lang Normalität vorgaukelt. Aufschlussreich der Dokumentarfilm
The Fog of War: Dem Amerikaner Errol Morris gelingt aus Essenzen eines 20-stündigen Interviews mit dem früheren US-Verteidigungsminister McNamara und eingeschobenen Archivaufnahmen das vielschichtige Porträt eines Politikers, der den Gang der Weltgeschichte beeinflusste und nach einer großen Karriere offen seine möglichen Fehler gesteht. Dieser Film vermittelt hautnah die manchmal schwierige Gratwanderung zwischen Krieg und Frieden.
Eine deutsche Produktion am Rande
Der deutsche Beitrag
September von Max Färberböck, der aber nur in der Sektion "Un Certain Regard" lief, wurde vom internationalen Publikum freundlich-distanziert aufgenommen. Das Leben von vier ganz normalen Paaren bekommt durch den Terroranschlag des 11. September eine neue Wendung. Das innere und äußere Chaos versetzt die Protagonisten in einen Ausnahmezustand, in dem sie Entscheidungen revidieren und neu treffen. Der Film spiegelt ihre Unsicherheit wider, ihre Verstörung und ihre Zerrissenheit. Entstanden ist eine interessante, wenn auch etwas zähe Momentaufnahme individueller Befindlichkeiten.
Autor/in: Margret Köhler, 21.09.2006