Hintergrund
Mädchengangs schlagen zu
Szene aus dem Film "Kroko"
Sie schlagen, treten und schubsen, sie ziehen Gleichaltrigen die Jacken ab, nehmen ihnen die Handys weg, klauen ihnen ihr Geld und den MP3-Player – Mädchengangs in Berlin. So lange sie sich nur in den einschlägigen Stadtvierteln Neukölln, Kreuzberg und Wedding bewegten, blieben sie eine mediale Randerscheinung. Doch als sie auch in den gestylten Einkaufspassagen am Gesundbrunnen oder auf dem Potsdamer Platz Touristen überfielen, wurden sie ein Medienthema. Weibliche Gewalttäter, jung, brutal und rücksichtslos – das fetzt. Die "BZ" ließ "Schlägergirls" auspacken und der "Stern" widmete den sorgsam maskierten "Queens" – Töchter aus kurdischen, türkischen und nordafrikanischen Einwandererfamilien – eine Vier-Seiten-Fotoreportage.
Ist Gewalt auch weiblich?
Was ist dran an der Mädchenkriminalität? Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet zwischen 1993 und 2000 unter allen Tatverdächtigen bei den weiblichen Jugendlichen einen etwas stärkeren Anstieg als bei den männlichen. Bei den weiblichen Jugendlichen wiederum wurden Mädchen zwischen 14 und 15 Jahren am häufigsten erfasst. Bei Delikten wie schwerer und gefährlicher Körperverletzung hat sich die Zahl der Fälle weiblicher Kriminalität mehr als verdoppelt. Noch sind aber drei Viertel der Tatverdächtigen unter 21 männlich. Das bedeutet in absoluten Zahlen: Von den rund 298.000 Jugendlichen zwischen 14 und 18, die 2002 in der PKS wegen Delikten vom Ladendiebstahl über Rauschgiftmissbrauch bis zur Körperverletzung erfasst wurden, sind 221.000 männlich und 77.000 weiblich.
Umdenken in der Jugendforschung
Es sei kein Problem gewesen, gewaltauffällige gemischtgeschlechtliche Gruppen zu finden – sie kommen quasi in jeder deutschen Großstadt vor, schreiben die Jugendforscherinnen Kirsten Bruhns und Svendy Wittmann (Deutsches Jugendinstitut) in ihrer Studie "Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen". Schwerer zu finden seien gewaltorientierte reine Mädchengruppen. Doch auch sie gibt es – nicht nur in Berlin. Das Klischee, "gewaltbereite Jugendgruppen seien keine Orte für Mädchen", in der Jugendforschung lange vorherrschend, sei damit hinfällig.
Anerkennung und Gewalt
Die Forscherinnen haben herausgefunden: Gewalttätiges Handeln von Mädchen richtet sich vor allem gegen andere Mädchen in ähnlichen Cliquen. Sie verwenden keine Messer oder Baseballschläger, ihre Kampfmittel sind Fäuste, Füße, Fingernägel und Zähne. Anlässe sind "rufschädigende Äußerungen", Gerüchte und Beleidigungen der eigenen Person, der Familie, der Freundinnen oder der Gruppe. Es geht um das eigene Ansehen in der Clique und über die Clique hinaus. Diese Jugendlichen – das gilt allerdings für beide Geschlechter – leben in dem Bewusstein, "dass es in einem gewaltaffinen jugendlichen Umfeld riskant ist, als schwach oder vereinzelt zu gelten." (Bruhns/Wittmann). Durch die Drohung mit oder die Anwendung von Gewalt erleben die Mädchen, dass sie von anderen anerkannt und gefürchtet werden.
Gewalt und Weiblichkeit
Voraussetzung für dieses Auftreten ist die Möglichkeit, körperliche Gewalt nicht als männlich-chauvinistisch, als "unweiblich" zu erleben, sondern positiv in das eigene Konzept von Weiblichkeit zu integrieren. Junge Frauen richten ihre Aggressivität nicht mehr gegen sich selbst (Bulimie, Selbstverstümmelung), sondern wenden sie nach außen. Wo sich im Verständnis der Gesamtgesellschaft längst das Bild einer energischen, selbstbewussten und harten Frauenrolle durchgesetzt hat, gehen die Medien – Computerspiele, Kino, Fernsehen – gerne noch weiter. Für viele Jugendliche schlagen sich Lara Croft, die "Drei Engel für Charlie" oder die unterschiedlichen Polizistinnen und Kommissarinnen im Fernsehen prügelnd, schießend und fluchend, aber durchaus erfolgreich durch eine feindliche Welt. Gewalt wird so allmählich in das Konzept von Weiblichkeit integriert.
Alte und neue Erklärungsmuster
Warum manche Mädchen dazu übergehen, Gewalt auszuüben, und andere in der gleichen Lage nicht, lässt sich – so die Forscherinnen – nicht eindeutig sagen. Familiäre Konfliktsituationen, Gewalterfahrungen in der Familie, unzureichende Unterstützung durch die Eltern, Vernachlässigung sind mögliche, aber nicht hinlängliche Erklärungen. Gemeinsam scheint der Wunsch nach Anerkennung, nach Respekt. Eine Rolle scheint auch die Auflehnung gegen traditionelle weibliche Verhaltensmuster zu spielen. Zerrissen im Konflikt der Kulturen versuchen zum Beispiel Mädchen aus streng muslimischen Familien auszubrechen und eine andere Lebensform auszuprobieren.
Zwei Welten
"Wenn du nicht schlägst, dann schlagen andere dich", sagt die 14-jährige Schino (Stern 44/2003) von den "Queens". Doch das gilt nur tagsüber. Abends um halb sieben ist sie zu Hause, da gibt es keine Ausnahme. Dann ist sie wieder zurück in einer Welt, die mit dem Alltag "draußen" in der Großstadt nichts zu tun hat: muslimisches Abendgebet, türkisches Essen, der übermächtige Vater.
Links:
www.dji.de Website des Deutschen Jugendinstituts, München; dort auch Hinweis auf die in der DJI-Reihe erschienene Publikation: Kirsten Bruhns und Svendy Wittmann: "Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen". Opladen 2002
www.jugendkulturen.de Archiv der Jugendkulturen, Berlin
www.bka.de Bundeskriminalamt – Polizeiliche Kriminalstatistik
Autor/in: Volker Thomas, 21.09.2006