Hintergrund
Koloniale Migration nach Großbritannien zwischen 1948 und 1962
Großbritannien ist ein multiethnisch geprägtes Land, dessen heutiges Erscheinungsbild stark von Zuwanderern aus den früheren Kronkolonien bestimmt wird. Einst durch nichtstaatliche Initiativen von Seeleuten, Siedlern und Handelsgesellschaften wie durch kriegerische Auseinandersetzungen zu einer weltweit führenden Handels- und Kolonialmacht geworden, erstreckte sich das britische Herrschaftsgebiet noch im Jahr 1933 über 24 Prozent der Landoberfläche der Erde und beheimatete etwa 502 Millionen Menschen.
Der Niedergang eines Weltreiches
Die Beteiligung an beiden Weltkriegen und die ökonomische Entwicklung anderer Nationen führten das Mutterland der Industrialisierung im 20. Jahrhundert jedoch in eine schwere Krise. Der wirtschaftliche Abstieg ging mit einem außenpolitischen Bedeutungsverlust Großbritanniens einher. Der Prozess der Entkolonialisierung beschleunigte sich dramatisch. Nachdem die USA Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Marshallplans Finanzhilfen gewährt hatten, entspannte sich die innenpolitische Situation 1948, die wirtschaftliche Lage verbesserte sich wieder. Die Regierung stand aber vor dem Problem, dass trotz der Rekrutierung von Vertragsarbeitnehmern/innen aus vorwiegend osteuropäischen Ländern nicht ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Die britischen Regierungsagenturen begannen Arbeitnehmer/innen aus den Kolonien und dem Commonwealth of Nations, der unter britischer Vorherrschaft stehenden Vereinigung unabhängiger Mitgliedstaaten, anzuwerben.
Eine Immigrationswelle aus der Karibik
1948 setzte eine größere von den Westindischen Inseln in der Karibik ausgehende Migrationsbewegung ein. Arbeitsmigranten/innen, die vor allem die Engpässe in den Schlüsselindustrien wie der Bau- und Textilindustrie und den Eisengießereien, aber auch im Transportwesen und Gesundheitsbereich ausgleichen sollten, kamen ins Land. Als Mitglieder des Commonwealth genossen die Migranten/innen zunächst einen privilegierten Rechtsstatus: Sie konnten ohne Beschränkungen einreisen und hatten einen Anspruch auf die Verleihung der vollen englischen Staatsbürgerrechte. In den 1950er Jahren stammte ein Großteil der britischen Neubürger/innen von den Westindischen Inseln, vor allem aus Jamaika. Aufgrund ihrer Sozialisation in dem von der Kolonialmacht aufgebauten Schulsystem verfügten gerade diese afro-karibischen Migranten/innen über günstige Voraussetzungen, um von der englischen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Sie sprachen Englisch als Muttersprache, waren mit den Grundelementen der britischen Kultur vertraut und gehören darüber hinaus mehrheitlich protestantischen Religionsgemeinschaften an.
Fremdenfeindliche Reaktionen
Bald nach der Einreise der nichtweißen Minderheit reagierten dennoch Teile der britischen Bevölkerung mit xenophoben Ressentiments. Den Gewerkschaften gelang es zunächst, die Angst vor der Konkurrenz der Arbeitsmigranten/innen einzudämmen. Während der Rezession 1956/58 verstärkten sich die sozialen Ängste. Forderungen nach einer Begrenzung der Zuwanderung für afrokaribische und asiatische Einwanderer/innen wurden laut. 1958 kam es zu ersten Gewalttaten gegen Zugewanderte aus dem Commonwealth, der Londoner Stadtteil Notting Hill wurde von schweren Rassenunruhen erschüttert. Rechtsradikale Organisationen und Teile der örtlichen Presse hatten die Ressentiments in der Bevölkerung geschürt. Nach den Ausschreitungen verurteilte die Justiz neun weiße Jugendliche zu je vier Jahren Gefängnis. In seiner Urteilsbegründung betonte das Gericht das Recht der Menschen, unabhängig von der Hautfarbe frei von Angst zu leben. Auf politischer Ebene wurde die Immigration zum Konfliktthema. 1962 trat ein neues, von der konservativen Partei erarbeitetes, restriktives Einwanderungsgesetz in Kraft. Die politische Auseinandersetzung um Zuwanderung war damit aber noch lange nicht beendet.
Weiterführende Literatur:
Christoph Butterwegge, Siegfried Jäger (Hrsg.): Rassismus in Europa, 2. Auflage 1993 Hans Kastendiek, Karl Rohe, Angelika Volle (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien, 2. Auflage 1998 Mechthild Jansen, Sigrid Baringhorst (Hrsg.): Politik der Multikultur, 1. Auflage 1994
Autor/in: Ina Pfeiffer (punctum, Bonn), 21.09.2006