Jüdische Lebenswelten heute in Mitteleuropa
Seit dem Zweiten Weltkrieg findet die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Judentum in Deutschland fast ausschließlich auf zwei Ebenen statt: der ersten des historischen Rückblicks auf den Holocaust, die Verbrechen der Nationalsozialisten und die tiefen Wunden der Überlebenden sowie der zweiten des israelischen Staates und damit verknüpft des israelisch-palästinensischen Nahostkonflikts. Doch über jüdische Lebenswelten und Alltagskultur in der heutigen Zeit mitten in Europa – in Deutschland insbesondere – und über das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden erfährt man zumindest im Bereich des Kinofilms wenig. In den Städten mit einer jüdischen Gemeinde vor Ort und dort, wo sich persönliche Kontakte ergeben haben, mag das anders sein, aber die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung hat diese Gelegenheit nicht. Auch die Medien haben sich hier sehr bedeckt gehalten, das Thema allenfalls dann aufgegriffen, wenn es um neonazistische Übergriffe oder um mögliches Fehlverhalten einzelner Fernsehmoderatoren ging. Eine Komödie über Juden in Deutschland gar, die der langen Tradition des jüdischen Humors verpflichtet ist, schien bis vor kurzer Zeit undenkbar, entsprechende Umsetzungen eines Themas durfte man allenfalls von Woody Allen, aus anderen europäischen Ländern oder Israel selbst erwarten. Gerade aus der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden angesichts des Holocaust heraus wäre es aber angebracht und von besonderer Bedeutung, die jüdische Kultur nicht allein museal und vergangenheitsbezogen, sondern zugleich auch gegenwartsorientiert in ihrer lebendigen Vielfalt zu sehen und zu vermitteln, und somit Berührungspunkten und gegebenenfalls auch Reibungsflächen mit jüdischen Lebenswelten nicht aus dem Weg zu gehen.
Filmische Spurensuche
Wie wenig das bisher zumindest im Kino geschehen ist, wie sehr man offensichtlich allein die Vergangenheit des Judentums als "beachtenswert" und "wichtig" empfunden hat, zeigt ein Blick in die Internet Movie Database, die wohl bekannteste Datenbank im Bereich Film. Von fast 400 aufgelisteten Filmen aus aller Welt unter dem Stichwort "jüdisch" beschäftigen sich die meisten unmittelbar mit dem Nationalsozialismus, der Judenverfolgung und dem bis in jetzige Generationen wirkenden Trauma. Jüdische Identität und jüdische Lebenswelten heute, insbesondere auch außerhalb des Staates Israel und mitten in Europa, sind natürlich untrennbar mit dieser historischen Entwicklung verbunden. Aber heißt das, es gäbe daher keine Alltagskonflikte, keine allgemein menschlichen Probleme, keine humorvollen oder dramatischen Begebenheiten auch im Leben der jüdischen Bevölkerung unter uns, über die das Kino Geschichten erzählen könnte und über die vielleicht sogar geschmunzelt oder gelacht werden kann?
Alles auf Zucker!
Eine deutsche Komödie
Einige wenige Filmemacher/innen haben den Mut aufgebracht, jüdische Identitätsfindung und die Suche nach den eigenen Wurzeln nicht nur in unserer Gegenwart spielen zu lassen, sondern auch humorvoll über das Genre der Komödie zu vermitteln. Der seit vielen Jahren in Berlin lebende schweizer Regisseur Dani Levy hat ALLES AUF ZUCKER! ursprünglich "nur" für das Fernsehen produziert. Da der Film aber bei Publikumsvorführungen sehr gut ankam, erhielt er nun vorab eine Chance in den Kinos, wenn auch nur mit einem kurzen Auswertungsfenster. Zwei seit vielen Jahren zerstrittene Brüder kommen nur dann an die Erbschaft der verstorbenen Mutter, wenn sie sich wieder versöhnen und der Mutter gemeinsam ein Begräbnis nach jüdischem Gesetz bereiten. Das ist aber nicht so einfach, denn Jakob Zucker(mann) wohnt in Ostberlin, ist passionierter Billardspieler und Hasardeur und er hat mit jüdischen Traditionen wenig am Hut, während Bruder Samuel und seine Familie seit vielen Jahren in Frankfurt am Main streng nach orthodoxen Gesetzen leben. Trotz ernsthafter Vermittlungsversuche einiger Familienmitglieder zwischen den zunächst unvereinbar scheinenden Welten steht der endgültige Bruch bevor, als Jakob ausgerechnet am Tag der Beerdigung ein für ihn wichtiges Billardturnier bestreiten möchte.
Der Tango der Rashevskis
Eine französische Komödie
Auch in DER TANGO DER RASHEVSKIS von Sam Garbarski wird der Tod der Mutter zum Auslöser einer Neuordnung der familiären Beziehungsstrukturen. Rosa, das Senioroberhaupt der liberalen Familie Rashevski, hat in ihrem Testament verfügt, dass sie auf einem jüdischen Friedhof begraben werden möchte. Dieser Wunsch wird zum Auslöser turbulenter Ereignisse und religiöser Selbstfindung in den Familien der beiden Söhne David und Samuel sowie Rosas Enkelkindern Nina und Ric. Während Nina etwa im Gegensatz zu ihrem Vater, der eine Nichtjüdin geheiratet hatte, nur mit einem religiösen Juden eine eigene Familie gründen möchte und damit ihren nichtjüdischen Freund zur Konversion veranlasst, heiratet Nic schließlich eine Palästinenserin. Der Tango erweist sich bei diesen Konflikten als Mittel der Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses. In Frankreich war der Film ein Überraschungserfolg des Kinojahres 2003 – nicht zuletzt wegen seines feinen Humors und seiner großen Sensibilität.
Die Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart
In Ergänzung dieser beiden aktuellen Filme steht KALMANNS GEHEIMNIS von dem niederländischen Schauspieler und Regisseur Jeroen Krabbe aus dem Jahr 1998 und über das Jahr 1971, in dem der Film spielt, als Vorläufer bzw. als ein frühes Beispiel für die filmische Auseinandersetzung zwischen säkularem/liberalem und orthodoxem Judentum sowie mit gängigen Vorurteilen und Klischeevorstellungen. Die Literaturverfilmung erzählt die Geschichte der jungen liberalen Chaja, die sich ihr Philosophiestudium mit einem Job als Kindermädchen bei einer chassidisch-jüdischen Familie verdient. Simcha, den mit fünf Jahren jüngsten Sohn dieser Familie, hat sie besonders ins Herz geschlossen. Ein tragischer Unglücksfall wird für Chaja schließlich zum Auslöser, ihre eigene Herkunft in einem anderen Licht zu sehen.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006